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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Quantenphysik. Beispielsweise kann ein Elektron zeitgleich an verschiedenen Stellen sein. Man hat das mit dem sogenannten Doppelspalt-Experiment nachgewiesen. Stellt euch eine Trennwand mit zwei Schlitzen vor, dahinter einen Sichtschirm. Sendet man nun ein einzelnes Elektron in Richtung der Trennwand, nimmt es den Weg durch beide Schlitze. Das ist durch Messungen am Sichtschirm zweifelsfrei feststellbar.« Er wartete ein paar Sekunden, damit John und Laura seinen Worten folgen konnten. »Ein Elektron ist also in der Lage, sich gewissermaßen zu klonen. Und dieses Prinzip ist auch für die Existenz des Multiversums verantwortlich. Jede Sekunde entstehen Millionen und Abermillionen neuer Welten, jede einen winzigen Tick anders als alle anderen. Doch die vielen winzigen Unterschiedlichkeiten summieren sich im Lauf der Jahre. Irgendwo im Multiversum gibt es eine Welt, in der du vielleicht ein wenig größer oder kleiner bist, John, eine Welt, in der du Laura geheiratet hast, und eine, in der ich sie bekommen habe. Und eine Welt, in der du noch immer Chef der McNeill Group bist.«
    Er habe John keiner echten Zeitreise ausgesetzt, erklärte Gordon weiter, sondern ihn lediglich in die Vergangenheit einer Parallelwelt transportiert. »Wir waren uns dessen bisher nicht ganz sicher«, sagte er. »Bei den Geschichtsetappen, die meine Wissenschaftler und ich besucht haben, sind uns nie irgendwelche Unstimmigkeiten aufgefallen, ganz einfach, weil wir nicht lange genug dort waren, um sie zu bemerken. Daher hielten wir es für wahrscheinlich, dass wir tatsächlich Zeitsprünge unternahmen. Erst durch dich wissen wir, dass wir uns geirrt haben – dass das Multiversum existiert und wir es mit Hilfe von Wurmlöchern bereisen können.«
    »Ich war also nicht in unserem, sondern sozusagen in einem anderen Jahr 1541.«
    »So könnte man es ausdrücken.«
    »Deshalb sind all die Merkwürdigkeiten passiert.«
    »Genau.«
    »Und als ihr mich in die Gegenwart zurückgeholt habt, lief etwas schief.« Es war eine nüchterne Feststellung.
    Gordon seufzte. »Es tut mir leid, John, aber der Computer hat dich aufgrund deiner Notsituation so schnell aus dem sechzehnten Jahrhundert evakuiert, dass er dich nicht in deine Heimatwelt teleportiert hat, sondern in eine weitere Parallelwelt. Diesmal in eine Parallelwelt der Gegenwart.«
    John brummte der Schädel, und das lag nicht nur an den Nachwirkungen des Alkohols. Es fiel ihm unglaublich schwer zu glauben, was er da hörte, aber er gestand sich ein, dass Gordons Worte Sinn ergaben. Sie boten eine Erklärung für alles, was ihm bislang verwirrend, beängstigend oder gar vollkommen absurd erschienen war. Die Schlussfolgerung daraus erschreckte ihn jedoch noch mehr als die Befürchtung der vergangenen Tage, den Verstand zu verlieren. Alle Absonderlichkeiten, die ihm widerfahren waren – sowohl im südamerikanischen Dschungel als auch hier in London –, waren keine Halluzinationen gewesen, sondern Realitäten. Er steckte fest in einer Gegenwartswelt, die er nicht kannte und die sich gegen ihn verschworen zu haben schien. Er war vom Regen in die Traufe gekommen – von einer Terra incognita in die nächste. Welche Überraschungen warteten als Nächstes auf ihn?
    »Weshalb hast du mir das nicht von Anfang an gesagt, Gordon?«, wollte er wissen. »Wenn du nicht sicher warst, ob es sich um eine echte Zeitreise oder um eine Reise durchs Multiversum handelt, hättest du mir wenigstens vorher Bescheid sagen müssen!«
    Gordon antwortete mit entwaffnender Offenheit. »John – ich wollte Geld von dir haben. Viel Geld. Fünfzehn Millionen Pfund, um meine Forschungen weiter voranzutreiben. Da konnte ich wohl schlecht zugeben, dass ich noch nicht mal weiß, was wir in unserem Labor überhaupt tun! Und wie gesagt: Wir gingen davon aus, dass deine Reise ebenso reibungslos verläuft wie alle anderen, die wir bis dahin unternommen hatten. Niemand konnte ahnen, dass sie beinahe in einer Katastrophe enden würde.«
    »Sie endete ineiner Katastrophe!«, zischte John. »Ich bin nicht in meiner alten Welt gelandet, sondern irgendwo anders!«
    »Das stimmt – so weit die schlechte Nachricht«, sagte Gordon. »Die gute lautet: Ich glaube, ich kann dich wieder in deine Gegenwart zurückbefördern.«
    »Du glaubst?«
    »Ich kann es dir nicht garantieren. Niemand könnte das. Aber es ist deine einzige Chance. Es sei denn, du findest dich damit ab hierzubleiben.«
    John massierte sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel.

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