Incognita
Nein, er wollte nicht hierbleiben. Er wollte zurück in die Heimat, wo alles so war, wie er es verlassen hatte. »Wie sicher bist du, dass du mir mein altes Leben wiedergeben kannst?«, fragte er.
»Was willst du? Eine Prozentangabe wie in der Wettervorhersage?« Gordon atmete durch. »Wir haben die Computerdaten ausgewertet und ein paar Berechnungen angestellt. Wir konnten den Verlauf deiner bisherigen Reise rekonstruieren. Folglich können wir auch die Route für deine Rückreise berechnen. Das ganze benötigt nur noch ein wenig Zeit.«
»Und wo ist der Haken?«
»Dass wir so etwas noch nie gemacht haben. Mein Team und ich hatten es noch nie mit einem Fall wie dir zu tun.«
»Was, wenn die Computerberechnungen falsch sind? Ich meine: Was wäre das Schlimmste, das mir passieren kann? Eine weitere Parallelwelt, die noch seltsamer ist als diese hier?«
»Entweder das … oder du kommst nirgendwo mehr an.«
»Was soll das heißen?«
Gordon seufzte. »Du hast mir eben vorgeworfen, dass ich dich über die Risiken deiner ersten Reise im Unklaren gelassen habe. Diesmal will ich dir die Wahrheit sagen. Ich halte den Extremfall zwar für so gut wie ausgeschlossen, aber falls er dennoch eintritt, könnte es sein, dass wir dich – sprich: deine Seele – nicht halten können und verlieren.«
»Im Klartext: Ich könnte sterben.«
»Letzten Endes liefe es darauf hinaus, ja.«
John wünschte sich, das Pochen in seinem Schädel würde endlich aufhören. Alkohol und Müdigkeit ließen ihn noch immer keinen klaren Gedanken fassen.
»Ich muss in Ruhe darüber nachdenken«, sagte er. »Ich melde mich bei dir, sobald ich meine Entscheidung getroffen habe.«
Kapitel 24
Als John erwachte, zeigte der Digitalwecker auf seinem Nachttisch 3:23 Uhr an. Er drehte sich auf die Seite und versuchte, wieder einzuschlafen, aber es gelang ihm nicht. So müde der Alkohol ihn am Abend gemacht hatte, so belebend wirkte er jetzt. Dennoch fühlte er sich viel zu ausgelaugt, um sich aus dem Bett zu quälen.
Das Pochen in seinen Schläfen war erträglicher geworden, stattdessen fühlte sein Kopf sich jetzt an wie in Watte gepackt. Während er wach lag und sich rastlos hin und her wälzte, wanderten seine Gedanken zu dem Gespräch mit Laura und Gordon.
Er befand sich also in einer Parallelwelt. Aber was bedeutete das konkret? Offenbar war seine Seele in den Körper des in dieser Welt lebenden John McNeill gefahren. Was aber war mit dessen Seele geschehen?
Auch die permanente Teilung der Welten beschäftigte John, insbesondere deren Auswirkung auf Gordons Projekt. Dass Gordon – der Gordon dieser Welt – über eine Maschine zum Bereisen des Multiversums verfügte, deutete darauf hin, dass die Parallelwelt sich erst vor Kurzem vom Original abgespalten hatte.
Gedankenverloren betrachtete John das Muster aus Licht und Schatten, das durch die Jalousie auf die Schlafzimmerwände fiel. Der gedämpfte Lärm der nächtlichen Großstadt drang an sein Ohr. Eine Weile achtete er darauf, ob der Geräuschteppich dieser London-Version anders klang als der seiner Heimatstadt, aber er konnte keinen Unterschied feststellen.
Gleichwohl war ihm klar, dass diese Welt ihm niemals ein Zuhause sein konnte. Wie lange er auch hierblieb, er würde sich immer fremd fühlen. Andererseits wollte er sein Leben nicht leichtsinnig durch einen noch völlig unerprobten Rücktransfer riskieren. Er befand sich in einer verdammten Zwickmühle!
Ein neuer Gedanke begann ihn zu beschäftigen: Wenn es Gordon tatsächlich gelänge, ihn in seine Heimat zurückzuteleportieren, waren dann künftig dauerhaft Reisen zwischen den beiden Welten möglich? Falls ja – welche Konsequenzen würde das nach sich ziehen? Wenn man bei einer Seelenwanderung in einen fremden Körper schlüpfte – konnte man sich dann beispielsweise mit sich selbst treffen? Mit seinem Alter Ego? Und falls Gordon einen Weg fand, die Verbindung zu weiteren Parallelwelten herzustellen, bestand dann nicht die Gefahr, irgendwann ein irreversibles Durcheinander anzurichten?
Dieser letzte Gedankengang brachte ihn auf einen verwirrenden Verdacht: Vielleicht war das Durcheinander schon weiter fortgeschritten, als er bislang angenommen hatte. Denn einerseits sprach vieles dafür, dass sein Weltensprung am 6. August stattgefunden und aus hiesiger Sicht nur wenige Minuten gedauert hatte – Lauras und Gordons Angaben waren durch den Zeitungsartikel über die Museumseröffnung untermauert worden. Andererseits galt
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