Incognita
gesagt kann ich mir das allmählich nicht mehr vorstellen. Den angeblichen Verfolger im Hyde Park habe ich noch akzeptiert. Aber mittlerweile geschehen so viele merkwürdige Dinge – das kann doch kein Hirngespinst sein! Ich verlange, dass du uns die Wahrheit sagst, Gordon!«
Sein Blick verriet, dass er tatsächlich etwas zu beichten hatte.
In John keimte ein Verdacht auf, so Angst einflößend, dass er schauderte. »Liegt es daran, dass ich während meiner Reise gezwungen war, meine Beobachterrolle aufzugeben und aktiv ins Geschehen einzugreifen? Habe ich dadurch den Lauf der Geschichte verändert?«
Einige unerträgliche Sekunden lang schwieg Gordon. Dann schüttelte er den Kopf. »Du hast die Gegenwart nicht manipuliert, John. Das konntest du gar nicht.«
»Ich habe die Entscheidungen von Orellana und Pizarro beeinflusst. Ich habe Menschen getötet. Die komplette Amazonas-Expedition ist anders verlaufen, als es uns die Geschichtsbücher bislang gelehrt hatten. Irgendwie muss sichdas doch auf die heutige Zeit auswirken!«
Gordon – offenbar ebenso müde wie John – fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Ausgeschlossen!«, insistierte er.
»Und weshalb?«
»Weil ich dich gar nicht in die Vergangenheit geschickt habe.«
John traute seinen Ohren nicht. »Ich war nicht in der Vergangenheit? Was zum Teufel habe ich dann erlebt?«
»Es war nicht die wirkliche Vergangenheit. Besser gesagt: nicht unsere Vergangenheit. Du warst in einem Paralleluniversum, das unserer Vergangenheit sehr stark ähnelt.«
John brauchte einen Moment, um die Neuigkeit zu verdauen. In Fernsehdokumentationen hatte er immer wieder von Paralleluniversen gehört, und während des Studiums hatte er mit Gordon, dem angehenden Physiker, oft darüber gesprochen. Daran geglaubt hatte er nie. Andererseits: Bis vor wenigen Augenblicken war er davon überzeugt gewesen, eine Zeitreise absolviert zu haben. Weshalb dann nicht eine Reise in ein Paralleluniversum? Im Grunde war beides gleichermaßen abstrus!
»Ich fürchte, das musst du mir genauer erklären, Gordon«, sagte Laura. »Ich verstehe allmählich überhaupt nichts mehr.«
»Dazu muss ich aber ein bisschen ausholen.«
»Ich habe heute Nacht nichts mehr vor.«
Gordon rieb sich die Augen und nickte. »Ist euch die Heisenbergsche Unschärferelation ein Begriff? Nein? Also dann – ganz von vorne: Wir sind es gewohnt, dass eine bestimmte Ursache bei gleichbleibenden Umweltbedingungen immer dieselbe Wirkung hervorruft. Wird eine Kugel auf einem Billardtisch hundertmal exakt gleich angestoßen, wird sie hundertmal dieselbe Bahn nehmen. Begeben wir uns jedoch in die Mikroebene, also in die Welt der Atome und Subatome, gelten andere Regeln. Kollidiert ein Elektron zum Beispiel mit einem Proton, prallt es im ersten Versuch möglicherweise nach links ab, aber im zweiten – völlig identischen Versuch – nach rechts. Die Bewegungsgesetze unseres guten alten Sir Isaac Newton spielen hier keine Rolle. Sie werden durch die Regeln der Quantenmechanik ersetzt, die besagen, dass eine bestimmte Ursache nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe an möglichen Wirkungen erzielen kann. Die Quantenmechanik kann zwar Eintrittswahrscheinlichkeiten angeben, aber im Einzelfall vermag sie eben nicht vorherzusagen, ob das Elektron beim Aufprall nun nach links, nach rechts oder gar in einem ganz anderen Winkel abgelenkt wird. Heisenberg, ein deutscher Physiker, hat das bereits um das Jahr 1930 herausgefunden. Diese Quantenunbestimmtheit lässt sich wiederum in Form möglicher Welten vorstellen. Unser Elektron könnte beispielsweise in zehn verschiedene Richtungen abgelenkt werden. Daraus ergeben sich dann zehn verschiedene Welten. Parallel-Welten. Sogar Parallel-Universen. Deshalb spricht die Wissenschaft auch vom sogenannten Multiversum. Bislang war das nur eine Theorie. Erst ich habe den – wenn auch noch inoffiziellen – Beweis erbracht, dass sie mit der Realität übereinstimmt.«
»Aber wie spalten sich diese Welten voneinander ab?«, fragte John, dem es noch immer schwerfiel, sich die Regeln der Quantenmechanik in der praktischen Umsetzung vorzustellen. »Und weshalb merken wir nichts davon?«
»Gute Frage«, sagte Gordon. »Leider habe ich darauf keine gute Antwort. Fest steht nur, dass es funktioniert.«
»Aber Materie kann sich doch nicht beliebig vervielfachen!«, wandte Laura ein.
»In gewisser Weise schon«, sagte Gordon. »Das ist eins der noch ungelösten Rätsel der
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