Incognita
John im Büro seit zwei Monaten als verschollen, was wiederum mit seiner eigenen Erinnerung korrespondierte – dass nämlich die Amazonas-Ausstellung und damit auch sein Reiseantritt im Juni stattgefunden hatten. Die Puzzlestücke passten nicht zusammen. Entweder war er Opfer einer Intrige geworden, die er noch immer nicht durchschaute, oder seine Notevakuierung aus dem sechzehnten Jahrhundert hatte eine Art Zeitriss verursacht, der sich quer durchs London dieser Parallelwelt zog und bewirkte, dass hier zwei unterschiedliche Zeitzonen nebeneinander existierten – eine Variante, die er noch viel weniger durchschaute.
Je mehr er darüber nachdachte, desto verworrener schienen die Möglichkeiten. Er musste sich eingestehen, dass er von Physik viel zu wenig Ahnung hatte, um das Modell der Parallelwelten in seiner Gänze zu begreifen. Zu abstrakt waren die Zusammenhänge, zu vielschichtig die sich daraus ergebenden Probleme.
An diesem Morgen klingelte der Wecker erst um halb neun, weil Laura nach dem gestrigen Marathon-Tag beschlossen hatte, später in die Kanzlei zu fahren. Während sie sich im Bad fertig machte, bereitete John das Frühstück zu und holte aus dem Briefkasten die Zeitung.
»Bist du dir schon darüber im Klaren, ob du dich von Gordon in deine alte Welt zurückbefördern lassen willst?«, fragte sie während des Frühstücks.
»Nein«, gab John zu. »Es ist wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Welches der beiden Übel soll ich wählen? Hier bleiben und in einer fremden Welt leben oder mich von Gordon teleportieren lassen – und eventuell dabei draufgehen. Wie würdest du dich entscheiden?«
Laura biss von ihrem Toast ab und ließ sich fürs Kauen viel Zeit. »Ehrlich gesagt – ich weiß es auch nicht. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken. Aber ich werde deine Entscheidung akzeptieren, wie sie auch ausfällt.« Sie griff nach Johns Hand und drückte sie zärtlich.
John lächelte sie an. Er wusste, dass ihre Einstellung nicht selbstverständlich war. Immerhin war er streng genommen gar nicht ihr Ehemann, sondern ein anderer John, der den Körper ihres Ehemanns in Besitz genommen hatte. »Möchtest du noch Kaffee?«
»Gerne.«
Er griff zur Kanne und goss nach, während Laura in der Zeitung zu blättern begann. Bereits auf Seite drei hielt sie inne. »Hast du das schon gelesen?«, fragte sie.
»Was, Darling?«
»Den Artikel über diese Mordserie, die heute Nacht verübt wurde.«
»Nein. Was ist damit?«
Sie reichte ihm kommentarlos die Zeitung und toastete sich eine weitere Scheibe Weißbrot.
Was John las, klang nach der Tat eines Verrückten: In der vergangenen Nacht waren in London sieben grauenhafte Morde begangen worden. Sämtliche Opfer waren durchbohrt und anschließend enthauptet worden. Weder die Köpfe noch die Waffen konnten bislang gefunden werden. Allerdings habe der Gerichtsmediziner an den Wunden der Opfer Teakholz-Spuren entdeckt, bei zwei Opfern seien außerdem Federn einer südamerikanischen Papageienart sichergestellt worden. Eine Erklärung für die Tat könne bislang niemand liefern. Die Polizei gehe derzeit von Ritualmorden aus.
»Nicht gerade das, was man beim Frühstück lesen will«, kommentierte John. Als er Laura die Zeitung zurückgab, kam ihm plötzlich der eigenartige Gedanke, die Mordserie könne etwas mit seiner Weltenwanderung zu tun haben. Was, wenn die Opfer mit einer Teakholz-Lanze ermordet worden waren, so wie die Indianer am Amazonas sie verwendet hatten?
Das kann nicht sein, sagte er sich. Mach dich nicht verrückt! Du hast genug mit deinen eigenen Problemen zu kämpfen, da musst du dir nicht auch noch einreden, für die Taten eines Geisteskranken verantwortlich zu sein. Dass diese Morde ausgerechnet heute Nacht passiert sind, ist purer Zufall. Das hat nichts mit dir und deiner missglückten Teleportierung zu tun.
Dennoch blieb ein schaler Beigeschmack zurück.
Laura verließ die Wohnung um halb zehn. In ihrem schwarzen Hosenanzug und der cremefarbenen Bluse von Fendi sah sie unglaublich attraktiv aus. John ertappte sich bei der Vorstellung, sie aufzuhalten und augenblicklich mit ihr zu schlafen, genau hier, im Eingangsbereich. Doch irgendwie kam ihm der Gedanke jetzt falsch vor, mit dieser Laura Sex zu haben, wo seine Laura doch irgendwo, in einem anderen Universum, auf ihn wartete.
Kaum zwei Minuten, nachdem Laura gegangen war, klingelte das Haustelefon. Am Apparat war der Portier.
»Guten Morgen, Sir.«
»Guten Morgen,
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