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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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ein Museumsdirektor es nur sein konnte.
    »John! Schön, dass Sie hier sind. Ich befürchtete schon, Sie würden mich im Stich lassen.« Er klopfte ihm väterlich auf den Rücken.
    »Verzeihen Sie die Verspätung, Andrew«, sagte John. »Das Unwetter hat uns aufgehalten. Kennen Sie schon meine Frau?«
    Lewelins kleine, verquollene Äuglein huschten zu Laura hinüber. »Ich bin sicher, dass ich mich an Sie erinnern würde, Mrs. McNeill«, sagte er.
    John machte die beiden miteinander bekannt, und Lewelin ließ es sich nicht nehmen, Laura einen Kuss auf den Handrücken zu hauchen. Er war durch und durch ein Vertreter der alten Schule.
    »Kommen Sie mit«, sagte Lewelin. »Ich möchte Sie mit ein paar Gästen bekannt machen.«
    »Gerne«, log John. Obwohl ihn das Thema der Veranstaltung brennend interessierte, widerstrebte ihm die damit verbundene gesellschaftliche Verpflichtung – um so mehr, als er heute im Rampenlicht stehen würde. Er verkniff es sich, noch einmal an seiner Fliege zu zupfen, ließ seiner Frau den Vortritt und folgte Lewelin ins Getümmel.
    Eine Dreiviertelstunde später saß John mit allen anderen Gästen in einem eigens für diesen Abend hergerichteten Nebenraum. Von der Decke hingen dicke Stoffbahnen mit der Aufschrift Sonderausstellung – Die Entdeckung des Amazonas herab. Zahlreiche Urwaldbilder – Fotos, Aquarelle, Ölgemälde – zierten die Wände. In einer Vitrine waren traditionelle Holzschnitzereien ausgestellt, in einer anderen Blasrohre, Macheten und weitere Waffen der Region. Das Rednerpult, an dem Andrew Lewelin soeben seine Eröffnungsworte ans Auditorium richtete, war flankiert von zwei mannshohen Indio-Figuren in Kriegerpose. Sie trugen hoch erhobene Schlagstöcke und auf dem Kopf imposanten Federschmuck. Hinter Lewelin stand eine gewaltige Stellwand mit der Darstellung einer alten Landkarte. Genau genommen handelte es sich um die Vergrößerung eines prächtig illustrierten Kupferstichs aus dem Jahr 1567, wie Andrew Lewelin erläuterte, also aus einer Zeit, in der der südamerikanische Kontinent aus europäischer Sicht noch nahezu unerforscht war. Das galt vor allem für das riesige Urwaldgebiet des Amazonas-Beckens. Nicht umsonst hatte der Zeichner dieser wundervollen Karte das Zentrum des Kontinents unbearbeitet gelassen und anstatt erfundener Flussläufe, Seen und Berge einfach nur zwei Worte niedergeschrieben: Terra incognita. Unbekanntes Land.
    »Und nun, meine Damen und Herren«, sagte Lewelin gerade, »will ich Ihnen einen Mann vorstellen, ohne den diese Ausstellung niemals zustande gekommen wäre. Durch seine großzügigen Spenden hat er die finanzielle Basis dafür geschaffen, all die Exponate zusammenzutragen, die wir Ihnen heute Abend – und ab morgen auch der Öffentlichkeit – präsentieren können. Bitte begrüßen Sie mit mir ganz herzlich John McNeill!«
    Lewelin gab den Zuhörern Zeit für einen Zwischenapplaus, was John ein wenig peinlich war. Angesichts der Summen, die Caldwell Castle verschlang, nahm sich der Spendenbetrag für das Museum eher bescheiden aus. Dass Lewelin Johns Großzügigkeit so sehr betonte, zeigte lediglich, wie stark das Museum auf Zuschüsse von außen angewiesen war.
    Der Applaus verebbte. »Nicht nur des Geldes wegen ist John McNeill heute Abend unser Ehrengast«, fuhr Andrew Lewelin fort. »Er ist auch ein ausgezeichneter Historiker. Viele von Ihnen kennen ihn lediglich aus den Wirtschaftsnachrichten, als Vorsitzenden des McNeill-Konzerns. Wer die Boulevardpresse verfolgt, kennt ihn vielleicht auch als Abenteurer oder als Betreiber eines mittelalterlichen Freizeitparks. Die wenigsten wissen, dass John Geschichte studiert und in diesem Fach sogar promoviert hat. Das Thema seiner Doktorarbeit lautet – Sie ahnen es bereits –: Die Entdeckung des Amazonas-Beckens von 1500 bis heute. Wer könnte also geeigneter sein, diese Ausstellung zu eröffnen, als John Callum McNeill? John – darf ich Sie ans Mikrofon bitten?« Lewelin begann wieder zu klatschen. Die Zuhörer folgten seinem Beispiel. John erhob sich aus der ersten Reihe, ging auf Lewelin zu und schüttelte ihm die Hand. Während der Museumsdirektor sich setzte, nahm John hinter dem Rednerpult Aufstellung.
    »Vielen Dank, Andrew«, sagte er, nachdem wieder Ruhe im Saal eingekehrt war. »Vielen Dank für die netten Begrüßungsworte. Vielen Dank für diese prachtvolle Ausstellung. Vor allem aber vielen Dank dafür, dass Sie nicht aus meiner Doktorarbeit zitiert haben –

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