Incognita
wusste, worauf er sich einließ.« Er drehte sich um, deutete auf die Landkarten-Stellwand hinter sich und richtete sich wieder an seine Zuhörer. »Wo gibt es heute noch eine Terra incognita auf unserem Planeten? Wo gibt es noch Landstriche, die man nicht wenigstens aus Büchern, aus dem Fernsehen oder aus dem Internet kennt? Wohin Sie auch reisen, Sie werden fast nirgends mehr auf unbekanntes Terrain stoßen. Wenn Sie heute den südamerikanischen Dschungel durchqueren, wissen Sie ziemlich genau, welchen Gefahren Sie sich aussetzen. Anfang des sechzehnten Jahrhunderts war die Lage völlig anders. Die Durchquerung des Amazonas-Beckens war für die Konquistadoren eine Reise ins Ungewisse. Deshalb noch einmal: Versuchen Sie, diese Ausstellung mit den Augen eines Menschen von damals zu betrachten. Versuchen Sie sich vorzustellen, in eine neue, Ihnen völlig unbekannte Welt entführt zu werden. Versuchen Sie nachzuempfinden, wie die ersten Europäer sich gefühlt haben müssen, als sie all das zum ersten Mal sahen. Ich wünsche Ihnen einen spannenden Abend.«
Die Zuhörer klatschten Beifall. Andrew Lewelin erhob sich von seinem Platz und schüttelte John die Hände, während die Pressevertreter ihre Fotos schossen und den Raum in ein Blitzlichtgewitter verwandelten. John strahlte in die Objektive. Insgeheim sehnte er sich jedoch danach, endlich seinen steifen Smoking und die mörderische Fliege loszuwerden.
In mehreren Grüppchen führten Lewelin und seine Helfer die Gäste durch die Ausstellung. Tatsächlich erinnerte der Rundgang weniger an eine Museumsbesichtigung als vielmehr an eine Fußwanderung durch den Amazonas-Regenwald. Gewiss gab es hier und da Bilder an den Wänden und Vitrinen, in denen seltene Exponate zur Schau gestellt wurden, aber ein Großteil der Räume glich einem botanischen Garten, dessen klare Intention es war, Dschungelatmosphäre zu schaffen. An unzähligen Stellen hatte das Museum Indianer- und Tierfiguren aufgestellt. Manche Arrangements zeigten Ausschnitte aus dem Dorfleben diverser Eingeborenenstämme, andere gaben kriegerische Auseinandersetzungen oder Szenen einer Jagd wieder. Wohin man auch sah, überall gab es etwas zu entdecken. Sogar für eine authentische Geräuschkulisse hatte Lewelins Team gesorgt. Aus verborgenen Lautsprechern klang das Zirpen und Summen von Insekten, außerdem exotisches Vogelgezwitscher und Affengebrüll. Das Ganze war unterlegt mit dem sanften Plätschern eines imaginären Wasserlaufs.
»Wie gefällt Ihnen die Ausstellung, Gnädigste?«, erkundigte sich Bürgermeister Loomis bei Laura. Bevor sie jedoch antworten konnte, ertönte von der Spitze der Gruppe ein gellender Aufschrei. Laura zuckte zusammen, Loomis ebenfalls. Selbst John erschrak, obwohl Lewelin ihn vorgewarnt hatte, dass es in dieser Ausstellung ein paar echte Überraschungen gab.
»Edna!«, rief der Bürgermeister seiner Frau zu. »Liebste, was ist passiert?« Er eilte nach vorne, wo Edna Loomis sich eine Hand vor die Brust hielt und mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen ins Gebüsch starrte. John, der dem Bürgermeister gefolgt war, erkannte im Schatten eines Farns einen großen haarigen Körper. Im Gegensatz zu den vielen starren Skulpturen der Ausstellung war dieser Körper jedoch in Bewegung: Er stellte sich auf die Hinterbeine, begann zu hüpfen und trommelte dabei wild mit den Armen auf den Boden. Dabei stieß er – typisch für diese Affenart – langgedehnte Klagelaute aus.
»Ein Brüllaffe«, kommentierte Andrew Lewelin. »Wenn Sie genau hinsehen, Mrs. Loomis, erkennen Sie das Käfiggitter. Der Affe ist eingesperrt.«
Die Frau des Bürgermeisters rang nach Atem. »Meine Güte – wer hätte auch damit gerechnet! Ein lebendiger Affe in einem Museum! Im ersten Moment dachte ich, er will sich auf mich stürzen!« Sie sah in die Runde wie jemand, der gerade einer Todesgefahr entronnen war. Zu John sagte sie: »Ich bin sicher, jetzt wird es mir leichter fallen, diese Ausstellung als Abenteuer zu betrachten.« Sie wirkte bereits etwas gefasster, dennoch ließ sie den Arm ihres Mannes bis zum Ende der Führung nicht mehr los.
Johns Armbanduhr zeigte kurz nach halb elf, als auch die letzte Gruppe die Führung beendete. Alle Gäste versammelten sich in der großen Haupthalle neben dem T-Rex-Skelett, wo erneut ein Büfett aufgebaut worden war. Hier stieß John auch wieder auf Gordon Cox.
»Hallo, John«, sagte Gordon, während er nach einem Martiniglas griff. Er versuchte noch immer,
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