Incognita
»Mehrere meiner Quellen haben unabhängig voneinander angegeben, Thorwald betreibe eine Computerfirma hier in London. Genaueres wusste allerdings keiner. Also habe ich ein wenig recherchiert. Aber meinen Nachforschungen zufolge gibt es keine einzige namhafte Computerfirma im Umkreis von fünfzig Kilometern, die von einem Hakan Thorwald geführt wird. Und dass die Russen ihre Millionen in eine kleine Klitsche stecken, kann ich mir nicht vorstellen.«
John glaubte das ebenfalls nicht. Es ergab keinen Sinn. Andererseits – was Decker herausgefunden hatte, ergab ohnehin nicht allzu viel Sinn. Aus zuverlässigen Kreisen wusste John, dass die Ljuganow-Brüder ein Standbein außerhalb der Computer- und Videospiele-Branche suchten. Eben deshalb hatte John sich ja so große Chancen auf das Geld der Russen ausgerechnet. Hatten sie ihre Meinung geändert? Zogen sie es womöglich gar nicht mehr ernsthaft in Erwägung, in einen Freizeitpark zu investieren? Aber weshalb hatten sie John dann auf Caldwell Island besucht?
Er hasste es, wenn er seine Geschäftspartner nicht einschätzen konnte. »Vielleicht ist dieser Thorwald kein Geschäftsführer, sondern ein anderer leitender Angestellter«, mutmaßte John.
»Hakan Thorwald ist nicht gerade ein üblicher Name in London«, antwortete Decker. »Bei keiner der größeren Computerfirmen arbeitet ein Mann mit diesem Namen – weder als Geschäftsführer noch als Prokurist oder als anderer leitender Angestellter. Nicht mal als Programmierer oder als Nachtwächter. Ich habe mich auch beim Einwohnermeldeamt erkundigt. Dort ist ebenfalls niemand auf diesen Namen eingetragen. Auch im Telefonverzeichnis – Fehlanzeige. Verstehen Sie, Sir? Dieser Mann gibt sich große Mühe, incognito zu bleiben. Es ist, als würde er gar nicht existieren.«
»Mit dem Namen allein kann ich nicht viel anfangen, Floyd«, sagte John. »Setzen Sie Ihre Recherchen weiter fort. Aber bringen Sie mich nicht gleich an den Bettelstab, in Ordnung? Hören Sie sich noch ein bisschen in der Branche um, und halten Sie mich auf dem Laufenden.«
John beendete das Gespräch. Er musste zugeben, dass die Sache merkwürdig schien. Wie hatte Decker sich ausgedrückt? Es ist, als würde dieser Mann gar nicht existieren. So etwas war John bislang noch nicht untergekommen.
Eine halbe Stunde später fuhr John seinen Mercedes auf den eigens für ihn reservierten Parkplatz unmittelbar vor dem Haupteingang des National Historical Museums in Kensington. Ein Museumsangestellter mit übergroßem Regenschirm eilte herbei, um ihn und Laura trockenen Fußes ins Gebäude zu geleiten.
Sie passierten das Vestibül und betraten eine große Halle, die den Charme der Grand Central Station in New York verströmte. Massive, kühl wirkende Steinwände, gefliester Boden, steinerne Treppenaufgänge und schmale Fenster, die weit hinaufragten, bis dicht unters Dach. Der Kerker von Caldwell Castle war nur unwesentlich abweisender. Allein das gigantische Saurierskelett in der Mitte der Halle – unverwechselbar das Gerippe eines Tyrannosaurus Rex – verlieh dem düsteren Gemäuer Museumscharme.
Rings um den T-Rex hatten sich bereits etliche Gäste versammelt, mindestens achtzig, schätzte John. Die meisten von ihnen bevorzugten die unmittelbare Nähe des Büfetts, an dem Kanapees, Säfte und auch alkoholische Getränke gereicht wurden. Auf den ersten Blick erkannte John mehrere Mitglieder des Stadtrats, außerdem den Bürgermeister nebst Gattin sowie mindestens zwei Dutzend weitere Personen des öffentlichen Lebens. Auch einige Pressevertreter waren anwesend. Sie fotografierten, machten Notizen, sprachen in Diktafone. Alles in allem herrschte durchaus reges Treiben, dennoch wirkte die Halle viel zu groß für den kleinen Besucherkreis.
John und Laura gesellten sich zu den anderen. »Möchtest du etwas zu trinken, Darling?«, fragte John in der Hoffnung, Lauras Stimmung werde sich bei einem Glas Champagner bessern. Sie lehnte ab.
Während John die ersten Hände zu schütteln begann und in belanglosen Small Talk verfiel, löste sich eine Gestalt aus der Gruppe und kam auf ihn zu – Andrew Lewelin, der Museumsdirektor. Er war hochgewachsen und hager und trug einen Anzug, den selbst Johns Großvater als altmodisch bezeichnet hätte. Seine eingefallenen Wangen schmückte ein ebenfalls längst aus der Mode gekommener Kaiser-Wilhelm-Bart. Jeder Quadratzentimeter dieses Mannes wirkte veraltet und angestaubt, gleichzeitig aber so ehrwürdig, wie
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