Incognita
heute machtlos ausgeliefert war. Er war nicht nur ihrer Schönheit verfallen, sondern auch ihrer Persönlichkeit, ihrem Wesen. Sie verfügte über einen starken Willen, ein gewinnendes Lachen und eine tiefe innere Wärme – etwas, das John immer wieder berührte. In ihrer Gegenwart hatte er das Gefühl, ein besserer Mensch zu sein.
Jetzt allerdings hätte er Gordon am liebsten erwürgt. Die Vertrautheit, mit der er mit Laura sprach, verunsicherte ihn. Die beiden gaben sich wie verliebte Turteltäubchen, und das in aller Öffentlichkeit. Die Frage, ob Laura und Gordon sich in den letzten Jahren womöglich öfter gesehen hatten, senkte sich auf John herab wie eine schwarze Wolke.
Er bemerkte, dass Laura ihn noch immer ansah und ihn jetzt sogar zu sich herüberwinkte. Ihre Miene war noch immer ernst, gleichzeitig ging von ihren Augen jedoch etwas Versöhnliches aus. Den ganzen Abend lang war sie auf John sauer gewesen. Jetzt wirkte sie wie jemand, der sich genug gestritten hatte und sich wieder vertragen wollte.
John seufzte, weil er spürte, wie seine Eifersucht gegen seinen Willen verflog. Laura verstand es wie kein anderer, ihn zu besänftigen, wenn er wütend war. Ein Blick von ihr genügte oft, um ihn selbst der tiefsten Übellaunigkeit zu entreißen, so wie jetzt.
Wie schafft sie das nur?, fragte sich John. Er wusste darauf keine Antwort. Er wusste nur, dass es irgendwie funktionierte. Sie war wie ein Engel, der in ihm die besten Seiten zum Vorschein brachte. Er gab sich einen Ruck und ging zu Laura und Gordon hinüber.
Zu dritt standen sie eine Zeitlang um den Tisch. Laura bemühte sich, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, aber obwohl Gordon nach Kräften mithalf, wurde John nicht so recht locker. Er konnte nicht über die Späße der beiden lachen, und schon gar nicht wollte er über die alten Zeiten plaudern. Außerdem war er irritiert von der Art, wie Laura und Gordon immer wieder kurze Blicke austauschten, so als würden sie in einer nur ihnen vertrauten nonverbalen Sprache miteinander kommunizieren. Die Frage war nur, worüber? In John keimte der Verdacht auf, dass dieses Gespräch einen ganz bestimmten Zweck verfolgte. Irgendetwas führten die beiden im Schilde.
Endlich schien Laura zu begreifen, dass John auf Small Talk nicht ansprang. Nach einer kurzen Pause, die deutlich machte, dass das Gespräch einen Wendepunkt nahm, kam sie direkt auf den Punkt. »Gordon ist heute nicht meinetwegen hier, John, sondern deinetwegen«, sagte sie. »Er will dir einen Vorschlag machen. Geschäftlich.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir gemeinsame Geschäftsinteressen haben.«
»Hör dir doch erst mal an, was er zu sagen hat.«
John seufzte und wandte sich Gordon zu. »In dieser Halle befinden sich Dutzende von Geschäftsleuten aus allen möglichen Branchen. Weshalb kommst du ausgerechnet auf mich zu?«
»Wenn du wüsstest, worum es geht, wärst du nicht so abweisend.«
»Das beantwortet nicht meine Frage. Warum ich?«
»Weil es niemanden gibt, der meine Auffassung von Geschichte so sehr teilt wie du«, sagte Gordon. Es klang aufrichtig. »Die Vergangenheit erlebbar machen – das ist der Gedanke, der uns beide verbindet. Du tust es, indem du diesem Museum Geld stiftest und indem du Caldwell Island erschaffen hast. Ich habe einen anderen Weg eingeschlagen. Übrigens einen besseren.«
John fühlte sich schon wieder provoziert. »Eine authentischere Vergangenheitserfahrung als auf Caldwell Island wirst du nirgends auf der Welt geboten bekommen«, antwortete er. »Wer zu mir kommt, lebt für eine Weile wie vor tausend Jahren. Meine Besucher schwitzen, spüren ihre Muskeln und leiden Hunger. Sie tragen Ritterrüstungen, um zu erfahren, was es bedeutet, mit dreißig Kilo Stahl am Körper zu kämpfen. Sie bauen Getreide an, mit Hacken und Ochsenpflügen. Sie sind Wind und Wetter ausgesetzt. Die meisten von ihnen sagen hinterher, dass sie erst jetzt wissen, was das Wort Mittelalter wirklich bedeutet.«
»Ich gebe zu, dass Caldwell Island Charme hat. Ich bin selbst dort gewesen. Im April. Es ist eine völlig neue Art von Urlaub. Es bietet auch gewisse Einblicke in eine andere Zeit. Aber nimm es mir nicht übel, John – authentisch ist es nicht!«
»Ach nein? Weshalb nicht?«
»Weil ein zentrales Element fehlt: die Gefahr. Auf Caldwell Island muss niemand befürchten, zu verhungern oder in einem Schwertkampf einen Arm abgeschlagen zu bekommen. Wer erwischt wird, wenn er ein Huhn klaut, wird höchstens
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