Incognita
es noch nicht.
John war so sehr in den schmerzlichen Anblick versunken, dass er den nahenden Hufschlag zu spät bemerkte. Erst, als der Boden unter seinen Füßen zu vibrieren begann und jemand in der Zuschauermenge laut aufschrie, fuhr er herum. Ein massiges Schlachtross preschte auf ihn zu. Die Muskeln und Sehnen bewegten sich bei jedem Galoppsprung wie die Kolben einer Lokomotive. Auf dem Rücken des Tieres saß Jorge La Roquas gebieterische Gestalt, die Verkörperung von roher Gewalt und totaler Gefühlsarmut. Noch bevor John begriff, was der Spanier mit seinem hoch erhobenen Schwert vorhatte, traf ihn dessen Stiefelspitze gegen die Brust, und er wurde jäh zu Boden geschleudert. Einen Moment lang fühlte er sich benommen, wie ein Schwergewichtler nach einem Aufwärtshaken, doch seine Rüstung dämpfte den Sturz. Er wälzte sich auf die Seite und kam wieder auf die Beine.
Was nun folgte, spielte sich wie in Zeitlupe vor Johns Augen ab: Jorge La Roqua riss so stark an den Zügeln seines Rosses, dass es abrupt stehen blieb und sich aufbäumte. Die Vorderhufe zappelten wie Schlagkeulen in der Luft, so dicht am Kopf des Indio-Kindes, dass es um ein Haar getroffen worden wäre. Der Vater des Jungen reagierte blitzschnell, indem er sich schützend zwischen den Kleinen und das Pferd stellte. Gleichzeitig fuchtelte er wie wild mit den Armen und stieß einen lauten Schrei aus, um das Tier zu erschrecken und es auf diese Weise zurückzudrängen. Doch entweder deutete La Roqua dieses Verhalten als Angriff, oder er wollte es als solchen deuten. Jedenfalls zögerte er keinen Moment, mit dem Schwert auf den Indio-Mann einzuschlagen, um ihm mit nur einem einzigen Hieb den Kopf vom Leib zu trennen. Der enthauptete Körper sackte in die Knie, verweilte einen Moment in dieser Position, als würde er ein letztes Gebet sprechen, und fiel dann schlaff auf die Seite.
Die nächsten Sekunden waren die längsten in Johns Leben. Niemand sprach ein Wort. Allen, die dem brutalen Zwischenfall beigewohnt hatten, stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
John spürte, dass sein Magen zu rebellieren begann. Er starrte wie hypnotisiert auf den abgetrennten Kopf mit den weit aufgerissenen, leeren Augen, dann auf die riesige klaffende Wunde an dem Halsstumpf, aus der sich Unmengen von Blut über den feuchten Lehmboden ergossen. Nichts hatte ihn auf diesen Anblick vorbereitet. Mit keinem Wort hatte Gordon ihn davor gewarnt, dass er einen Menschen sterben sehen würde, noch dazu auf diese bestialische Weise. John war angewidert, seine Beine fühlten sich an, als seien sie aus Wachs. Die anfängliche Begeisterung für diese Zeitreise hatte sich mit La Roquas unvermittelter und völlig unnötiger Brutalität ins krasse Gegenteil verkehrt.
Ein Schrei zerriss die Stille, ausgestoßen von der Frau des Getöteten. Sie fiel auf die Knie und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Leichnam. Mit einer Hand hielt sie ihren Sohn fest, den der Schock in einen Zustand willenloser Apathie versetzt hatte. Die andere Hand hob sie zitternd zum Himmel, als wolle sie ihre Götter anflehen, dieses schreckliche Verbrechen ungeschehen zu machen.
Jetzt löste sich die Stille auch bei den anderen Indios – den Zuschauern an der Stadtmauer und den Trägern im Zug. Wie eine Welle gingen die Entsetzensschreie durch die Reihen, gefolgt von weinerlichem Klagen und fassungslosem Gezeter. Manche schlugen erschüttert die Hände vors Gesicht, andere wandten vor Ekel den Blick ab. Die Älteren pressten die Kinder schützend ansich, um ihnen das grausame Bild zu ersparen. Aber John zweifelte nicht daran: Wer diese Szene gesehen hatte, würde sie ein Leben lang nicht mehr vergessen.
Das Gejammer der Indios wurde lauter. Viele von ihnen bedachten La Roqua mit zornigen Mienen oder ballten gar die Fäuste. John spürte, dass dies ein entscheidender Moment war. Würden die aufgebrachten Eingeborenen sich auf den Spanier stürzen, bräche die offene Revolte aus. Unterließen sie es, manifestierten sie damit einmal mehr ihre Rolle als besiegtes Volk.
Da John noch nie etwas von einer Revolte zu Beginn der Amazonas-Expedition gehört hatte – weder von seiner Mutter noch im Rahmen seiner Doktorarbeit –, stand der Ausgang dieses Intermezzos von vornherein für ihn fest. Tatsächlich wagte niemand, den spanischen Hauptmann anzugreifen, der erhobenen Hauptes im Sattel saß und seinen grimmigen Blick furchtlos durch die Reihen wandern ließ.
Sie fügen sich in ihr
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