Incognita
Schicksal, dachte John. Selbst unter diesen Umständen akzeptieren sie ihre Situation. Sie sind Lämmer, die die Herrschaft der Wölfe anerkennen.
Die Indio-Schönheit, die bis dahin neben der Leiche ihres Mannes gekniet hatte, kam auf die Beine. Mit tränennassen Wangen und schriller Stimme bedachte sie La Roqua in ihrer Sprache mit einer wahren Tirade. John verstand keinen Ton, war aber sicher, dass es sich um die schlimmsten Verwünschungen handelte, die ein Mensch ersinnen konnte. Umso erstaunlicher, dass La Roqua es mit unbewegter Miene über sich ergehen ließ. Erst, als die Stimme der Frau in Tränen erstickte, verzogen sich seine Mundwinkel zu einem boshaften Grinsen. Er beugte sich zu ihr hinab, sodass sein Gesicht nur noch eine Armlänge von ihrem entfernt war, und sagte gerade laut genug, dass John es mitbekam: »Ab jetzt gehörst du mir, schönes Kind. Hörst du? Mir ganz allein!«
Die Frau sah auf und funkelte ihn mit ihren wilden, smaragdgrünen Augen an. Ihre Miene, ihre Körperhaltung, ja ihre gesamte Erscheinung schienen auszudrücken: Du kannst zwar meinen Körper nehmen, doch dadurch besitzt du noch lange nicht mich! Sie spitzte die Lippen, als wolle sie genau das auch sagen, doch plötzlich wusste John, dass sie etwas anderes vorhatte: Sie wollte La Roqua anspucken!
Der Spanier ahnte es wohl ebenfalls. »Bevor du das tust«, zischte er, »denk an deinen Sohn! Du willst ihn doch nicht auch noch verlieren!«
John spürte, wie die Entschlossenheit der Frau nachließ. Trotz allen Kummers war sie vernünftig genug, nicht auch noch das Leben ihres Kindes zu riskieren. Nach einem endlos langen Augenblick senkte sie schließlich die Lider, um wieder ihr Gepäck aufzunehmen, das während des Zwischenfalls zu Boden gegangen war. Dann kniete sie sich zu ihrem Jungen, drückte ihn an sich und flüsterte ihm mit brüchiger Stimme ein letztes Lebewohl zu.
Ein Greis trat aus der Menge, nahm den Jungen bei der Hand und zog ihn mit sich. Das Kind stand noch immer unter Schock und leistete keinen Widerstand. Es weinte nicht einmal. Wie ein kleiner, ungelenker Roboter stolperte es dem Alten hinterher, willenlos und geistesabwesend. Vermutlich würde es erst im Lauf der Zeit die Ereignisse des heutigen Tages begreifen. Begreifen, dass sein Vater tot war und seine Mutter es hatte verlassen müssen. Begreifen, dass es nun allein auf der Welt war.
Die indianischen Träger stellten sich wieder in Reih und Glied auf. Die Zuschauermenge drängte sich noch dichter als vorher an die Stadtmauer, als könne sie ihr Schutz vor weiteren Gräueltaten bieten. Um den enthaupteten Leichnam kümmerte sich niemand mehr.
La Roqua trat seinem Pferd in die Flanken, riss an den Zügeln und vollführte eine halbe Drehung. Jetzt war sein Blick auf John gerichtet, ebenso wie seine blutige Schwertspitze. Johns Magen verkrampfte sich.
»Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt, Ortega!«, bellte der Spanier. »Es ist Eure Aufgabe, für Ordnung in diesem Haufen zu sorgen! Ihr werdet keine weiteren Disziplinlosigkeiten durchgehen lassen, ist das klar?« Er ließ seine Worte einen Moment lang wirken, wartete die Antwort aber gar nicht mehr ab, sondern gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte davon.
Während John ihm nachsah, wurde ihm bewusst, wie verkrampft er war. Zuerst der Mord an dem Indio, dann die Drohung gegen ihn selbst. Einen Moment lang hatte er tatsächlich um sein Leben gefürchtet. Er machte sich nichts vor: Eine derart brenzlige Situation hatte er noch nie erlebt.
Ihm fiel die Kette ein, die er um den Hals trug, und er zog einen Moment lang ernsthaft in Erwägung, seinen hiesigen Aufenthalt schon jetzt abzubrechen. Aber die Neugier auf die kommenden Zeitsprünge, auf die nächsten drei Etappen seiner Reise, überwog das Unbehagen, zumindest im Moment noch.
Angetrieben von Jorge La Roqua setzten die Träger sich wieder in Bewegung und schlossen zum vorderen Teil des Zugs auf, der – von der Bluttat unbeeindruckt – weitermarschiert war. Während John gedankenverloren neben den Indios durch den lehmigen Matsch stapfte, löste sich der Tross von den Stadtmauern Quitos und schlug den Weg in Richtung Osten ein. Das Hochplateau der Anden präsentierte sich im orangegelben Licht der Nachmittagssonne als perfekte Gebirgslandschaft – weite, saftig grüne Ebenen, umsäumt von den schneebedeckten Kegeln unzähliger Berg- und Vulkangipfel.
Während der Zug sich mit zäher Langsamkeit durch die karge, schier
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