Incognita
unendliche Weite kämpfte, befiel John ein Gefühl tiefer innerer Leere. Wie lange mochte die erste Etappe seiner Reise noch andauern? Die Fülle der neuen Eindrücke während dieser ersten paar Stunden war so überwältigend gewesen, dass er jetzt, aufgrund der Monotonie des Marsches, erstmals Gelegenheit fand, über alles nachzudenken. Sein vorläufiges Fazit war zwiespältig. Gewiss war diese Art von Abenteuer spannender als alles, was er bis dahin erlebt hatte. Doch in Anbetracht der Grausamkeiten, deren Zeuge er geworden war – die Vergewaltigung der Indio-Frau und die kaltblütige Ermordung ihres Mannes –, war er nicht mehr sicher, ob er diese Art von Abenteuer überhaupt noch wollte.
Hoch oben am Himmel zog ein Kondor seine Kreise. Die Sonne im Rücken stapfte John weiter. Noch während er den nächsten Zeitsprung herbeisehnte, begannen die Konturen der Berge vor ihm zu verschwimmen. Er spürte plötzlich, wie er trotz Wind und Kälte von einer schier unerträglichen inneren Hitze ergriffen wurde. In diesem Moment wusste er, dass die nächste Etappe bereits auf ihn wartete.
Kapitel 8
Feiner Nieselregen benetzte John von Kopf bis Fuß und drang ihm bis tief unter die Haut. Selbst jene Stellen seines Körpers, die durch seine Rüstung geschützt waren, fühlten sich unangenehm feucht an. Die durchweichten Ärmel seiner Uniform klebten kalt auf seiner Haut, in seinen Stiefeln stand das Wasser. Er fror, obwohl längst nicht mehr dieselbe Eiseskälte herrschte wie beim Abmarsch aus Quito. Es gab auch nicht mehr dieselbe glasklare Luft, durch die man das weitläufige Panorama der Anden über Dutzende von Kilometern hinweg in sich aufsaugen konnte, sondern nur noch dichten, grauen Nebel, der die Sicht auf das unmittelbare Umfeld begrenzte. Wie ein träger Wasserfall aus Dampf waberte er von der steilen Bergwand herab, umhüllte John und sog ihm den letzten Rest Wärme aus den Knochen, um anschließend über den schroffen, klippenartigen Fels weiter talabwärts zu kriechen. Der nackte, regennasse Steinboden war glitschig, als habe jemand Seifenwasser darauf ausgeschüttet. Noch schlimmer waren die Stellen, an denen sich loses Geröll angesammelt hatte, denn es hatte die Eigenschaft, immer dann unter Johns Sohlen nachzugeben, wenn er am wenigsten damit rechnete. Mehr als einmal verlor er den Halt und landete auf dem Hosenboden. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich nicht die Knochen brach.
Er blieb einen Moment stehen, um zu verschnaufen. Obwohl er durch den Zeitsprung de facto nur einen Bruchteil der bisherigen Reise miterlebt hatte, spürte er die Erschöpfung in jedem Knochen. In seiner Erinnerung waren die letzten Tage und Wochen nichts weiter als ein schwarzes Loch, doch sein Wirtskörper litt offenbar schwer unter den Strapazen des Marsches. Er hatte Blasen an den Füßen. Sein Schwert hing wie eine Zentnerlast an seiner Hüfte, außerdem scheuerte es bei jeder Bewegung auf der Haut. Sein Brustharnisch drückte an unzähligen Stellen. Und ihn schmerzten Muskeln, die ihm bislang völlig unbekannt gewesen waren. Kurzum, ihm tat alles weh, vom Scheitel bis zur Sohle.
Aber ich habe dieser Zeitreise ja unbedingt zustimmen müssen!
Neben ihm zog der Tross weiter. Noch immer befand John sich an der Seite der Indios, aber wie hatte sich ihr Anblick seit dem Aufbruch aus Quito verändert! Die Wollponchos schienen jegliche Farbe verloren zu haben, ebenso die Mützen und Schals. Durch den Nebel sah alles an ihnen grau und trist aus. Selbst ihre Schritte wirkten heute müder als damals, schleppend und schwankend. Und natürlich sprach wieder niemand ein Wort. Ein Totenzug auf dem Weg ins Nirgendwo.
John wischte sich die Nässe aus dem Gesicht. Sein Haar reichte ihm in zottigen Fransen bis zu den Schultern herab. Außerdem fühlte sich sein Vollbart zwar nicht mehr stoppelig, aber dennoch störrisch an. Er musste sich schon seit mindestens zwei oder drei Wochen nicht mehr rasiert haben. Je weiter sie sich von Quito entfernten, desto mehr schien er zu verwildern.
»Müde, Amigo?«
John drehte den Kopf zur Seite. Neben ihm stand Felipe Fuentes, der eine traurige Figur abgab: Er sah nicht mehr aus wie ein Wiesel, sondern wie eine alte Katze nach einer unfreiwilligen Dusche. Das Haar klebte ihm nass am Kopf, der anhaltende Regen schien in unzähligen kleinen Bächen an ihm herabzufließen. Der beeindruckende Brustharnisch wirkte in Anbetracht der schmächtigen Gestalt seines Trägers geradezu grotesk. Fuentes sah
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