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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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überwältigte. Nicht, dass La Roqua ernsthaft verletzt wurde – er trug nur ein paar Striemen und blaue Flecke davon. Aber sein Stolz war angekratzt. Ein Wilder hatte es gewagt, ihn anzugreifen. Wäre die Auseinandersetzung unbemerkt geblieben, hätte er gewiss gleich kurzen Prozess mit dem Mann gemacht. Aber ein paar Wachleute waren durch den Lärm aufmerksam geworden und hatten eingegriffen. Sie nahmen den Indio gefangen und steckten ihn ein paar Tage lang in den Kerker. Schließlich fällte Don Pizarro das Urteil. Zur Strafe, dass der Indio einen Spanier angegriffen hatte, ließ er ihm und einigen anderen, die auf ähnliche Weise auffällig geworden waren, eine Hand abschlagen.«
    »Was La Roqua offenbar noch nicht genügte«, sagte John, der sich den Rest der Geschichte ausmalen konnte. »Deshalb kam ihm die Abschiedsszene in Quito gerade recht, um seinen verletzten Stolz zu sühnen.«
    »Und um dafür zu sorgen, dass ihm künftig niemand mehr in die Quere kommen kann«, ergänzte Fuentes, dessen Lächeln inzwischen verschwunden war. »Daher würde ich mich an Eurer Stelle zurückhalten. Sonst rollt Euer Kopf womöglich als nächster.«
    John nickte, sagte aber nichts. Er musste zugeben, dass die Schönheit der Indio-Frau ihn überwältigte, aber er hatte immer noch nicht vor, sich ihr zu nähern. Sein Blick wanderte den steilen Pfad bergauf, von wo wie aus dem Nichts weitere Träger aus dem dichten Nebel auftauchten. Die Lamas und Schweine, die sich noch weiter oben befanden, waren in der trüben Suppe nicht einmal zu erahnen.
    John fiel auf, dass viele Träger mit notdürftigen Verbänden versehen waren – blutverkrustete Stofffetzen, die sie um alle möglichen Körperteile geschlungen hatten. »Was ist mit ihnen geschehen?«, murmelte er.
    Wie gedankenlos die Äußerung gewesen war, bemerkte er erst an Fuentes' ungläubiger Miene. Das Wiesel sah ihn an, als halte er ihn für einen Außerirdischen. »Ist Euch nicht gut, Amigo?«, fragte er. »Oder hat der Fels Euch den Helm derart zurechtgerückt, dass die Erinnerung Euch im Stich lässt?«
    »Der Fels?«
    Fuentes nickte ihm aufmunternd zu. Als John jedoch mit den Schultern zuckte, erzählte der Spanier ihm, was geschehen war: Vor drei Tagen hatte einer der Vulkane, die das Hochplateau der Kordilleren durchzogen, begonnen, Feuer zu speien. Nur wenige Augenblicke später habe die Erde zu beben und zu zittern begonnen, als stünde sie kurz vor dem Zerbersten. In dem daraufhin einsetzenden Chaos hatte es bedauerlicherweise viele Verletzte und sogar ein paar Tote gegeben – die ersten Verluste der noch jungen Expedition.
    John erinnerte sich, im Rahmen seiner Doktorarbeit von dem Erdbeben gelesen zu haben. Er war froh, dass ihm diese Etappe erspart geblieben war.
    Fuentes erzählte weiter, dass John durch die heftigen Bodenerschütterungen das Gleichgewicht verloren hatte und mit dem Helm gegen einen kantigen Felsen geschlagen war. »Dabei hat es Euch offenbar die Sinne durcheinandergewirbelt«, schloss er. »Erinnert Ihr Euch denn an gar nichts mehr?«
    »Doch. Jetzt, da Ihr mir den Vorgang schildert, kehren die Bilder allmählich zurück«, log John. »Ich bin sicher, dass mein Gedächtnis sich bald vollständig erholt haben wird.«
    »Das will ich für Euch hoffen«, sagte Fuentes. Er klopfte John kameradschaftlich auf die Schulter, schob sich noch ein Koka-Kügelchen in den Mund und setzte seinen Marsch schmatzend fort. John sah ihm nach, bis seine Silhouette im Nebel verschwand.
    Er selbst blieb noch eine Weile stehen, um weiter zu Kräften zu kommen. Allmählich ließ der vom Berghang nachrückende Strom an Trägern nach, und es kamen die ersten Lamas in Sicht. Je ein Indio führte eine Gruppe von mehreren aneinandergeleinten Tieren den schmalen Pfad hinab. Unter den voluminösen Lasten schienen die Lamas fast zusammenzubrechen, und auch sie hatten mit den Tücken des Abstiegs – dem losen Geröll, dem Matsch und dem regennassen Stein – zu kämpfen.
    John schloss sich der ersten Lama-Gruppe an. Der Abstieg durch Regen, Nebel und klamme Kälte schien sich ewig hinzuziehen. Da die Sicht auf einen Radius von wenigen Metern begrenzt war, stellte sich bei John rasch Langeweile ein. Stets hatte er dasselbe Bild vor Augen: den schmalen Geröllpfad, der sich wie ein Zufallsprodukt der Natur in unzähligen Windungen gegen den Steilhang presste. Dieser Abschnitt der Reise bestand aus nichts als Eintönigkeit. Schon bald sehnte er sich nach dem nächsten

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