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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Zeitsprung.
    Dann riss die Nebeldecke jedoch plötzlich auf, und der dichte Vorhang aus milchigem Dunst öffnete sich einen Spalt breit, als hätten die Berggötter ein Einsehen gehabt. Von einem Moment auf den anderen spürte John die Kraft der Sonne im Gesicht, wohltuend, wärmend, belebend.
    Die sich ihm bietende Aussicht war atemberaubend: Die Steilwand im Rücken stand John am Rand einer Felsenklippe. Vor ihm tat sich ein Abgrund von geschätzten hundert Metern und mit einem halsbrecherischen Gefälle auf. Außer ein paar Gräsern und Büschen gab es nichts, woran man sich hätte festhalten können. Weiter unten, in der Talsohle, lag der Bergnebelwald in stiller Erhabenheit, unberührt und urtümlich. Im kräftigen Licht der Mittagssonne erstrahlten die Blätter der Farne, Büsche und Baumkronen in saftigem Grün. Ein Meer von exotischen Blüten leuchtete in den herrlichsten Farben. Jetzt, da die Nebelwand sich geöffnet hatte, bildete John sich sogar ein, ihren zarten Duft einatmen zu können. Außerdem drangen die Geräusche des Waldes nun an sein Ohr, als hätte der Nebel sie zuvor gefiltert – Vogelgezwitscher, das Klopfen der Spechte, vereinzeltes Affengeschrei und das Zirpen von Insekten. Von hier oben wirkte all das wie das reinste Paradies. Weiter im Osten, für John noch nicht sichtbar, mussten die Hügelkuppen des Bergnebelwalds schließlich in die Ebene des Amazonas-Beckens übergehen, eine schier unendliche Fläche aus immergrünem tropischem Bewuchs, die sich quer über den gesamten Kontinent erstreckte, bevor sie schließlich die Atlantikküste erreichte. Ganze dreitausend Kilometer maß der Dschungel von einem Ende zum anderen, ein gigantisches Labyrinth aus Pflanzen, Sümpfen und Flüssen. Genau diesem Labyrinth wollte Gonzalo Pizarro seine Schätze abringen.
    Ein Schrei riss John aus seinen Gedanken, gellend und schrill. Als er bergauf blickte, um in der langen Schlange aus Menschen und Tieren die Ursache zu erkunden, konnte er nichts Außergewöhnliches feststellen. Im Gänsemarsch trottete der Zug den Pfad entlang. Dann jedoch sah er es: Weiter hinten, nur zweihundert Meter entfernt, dort, wo die Sonnenstrahlen noch immer gegen die Nebelmassen ankämpften, waren zwei Lamas aus dem Tritt geraten, und mit ihnen ihr Führer. Er war es auch, der geschrien hatte. Mit ausladenden Armbewegungen versuchte er, die Balance wiederzuerlangen, doch John erkannte sofort, dass ihm das nicht gelingen würde. Der Indio kippte zappelnd zur Seite. Der Versuch, sich an der Führleine festzuhalten, bewirkte lediglich, dass die beiden Lamas, die ebenfalls ins Wanken geraten waren, nun vollends das Gleichgewicht verloren. Wie in Zeitlupe neigten sich die voluminösen Lasten auf ihren Rücken über den Abgrund. Dann folgte eine Kettenreaktion, bei der jede Hilfe zu spät kam. Das erste Tier stürzte hysterisch blökend über den Klippenrand. Es riss das zweite mit sich, welches wiederum das dritte in die Tiefe zog und so weiter, bis sich auch das letzte Lama an der Leine im Sturz befand. Der Indio besaß zwar genug Reaktionsvermögen, das Seil loszulassen und nach einem anderen festen Halt Ausschau zu halten, aber seine Hände griffen ins Leere. Er rutschte mit den Lamas über die schroffe, fast senkrechte Steilwand nach unten, zunächst träge, dann immer schneller. Schließlich sah es aus, als würde ein einziges großes Knäuel aus Mensch und Tier der Talsohle entgegenrollen. Eine unaufhaltsame Lawine auf dem Weg bergab.
    Dann der Aufprall, dumpf und hart. Die Gestürzten waren nicht in den Farnen und Büschen gelandet, sondern auf einem vorstehenden Felsvorsprung, rund fünfzig Meter unterhalb des Pfads. Nur das lose Gestein rutschte weiter, bis es schließlich raschelnd in den Blätterwald am Ende des Hangs eintauchte.
    Auf der Klippe bildeten die Indios rasch eine Menschentraube, genau dort, wo der Lama-Führer aus dem Gleichgewicht geraten war. Ihnen stand der Schreck deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie hoben die Hände gen Himmel, begannen zu weinen oder lauthals zu klagen, oder sie riefen ihre Götter an. Was immer ihre Worte bedeuten mochten – sie litten. Wieder einmal hatten sie einen aus ihrer Mitte verloren.
    John eilte zur Unglücksstelle zurück, von dort hatte er bessere Sicht. Vorsichtig, um nicht selbst in den Abgrund zu stürzen, lugte er über die Klippe. Was er unten auf dem Felsvorsprung sah, ließ ihn vor Entsetzen schaudern. Zerschmetterte Tierköpfe, gebrochene Gliedmaßen. Rippen und

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