Incognita
aus wie eine Schildkröte in einem zu groß geratenen Panzer.
Noch etwas fiel John an dem Spanier auf: Sein Gesicht war längst nicht mehr so derb und unfertig wie in Quito, sondern viel detailreicher. John konnte jeden einzelnen Wassertropfen auf der Haut erkennen, jede einzelne Stirnfalte und jedes einzelne Barthaar. Wie er bald feststellen sollte, galt dies nicht nur für Fuentes. Alle Expeditionsteilnehmer erschienen ihm jetzt viel nuancierter. Offenbar hatte er die Sehschwäche der ersten Etappe überwunden.
Das Wiesel kramte aus seiner umgehängten Vorratstasche ein paar kleine grau-grüne Kügelchen, die er John in der offenen Hand hinhielt. »Nehmt ein paar davon. Das wird Euch guttun.«
»Was ist das?«
»Die Indios stellen sie aus den Blättern eines Strauchs her, den sie Koka nennen. Sie zerstoßen die Blätter, geben etwas Pflanzenasche, Kalk und Wasser dazu und formen daraus diese Bällchen. Schmecken wie Pferdedung, aber sie lindern Durst und Hunger, und sie wecken die Lebensgeister. Zwei von diesen Wunderkügelchen, und Ihr fühlt Euch wie neugeboren.«
John nahm erst einmal eines. Vorsichtig schob er es in den Mund – es schmeckte in der Tat scheußlich. Doch schon nach kürzester Zeit setzte eine belebende, ja geradezu berauschende Wirkung ein. Genau das, was sein müder Körper gebraucht hatte.
»Nicht übel«, murmelte er.
»Nicht übel? Das ist alles, was Ihr dazu zu sagen habt? Nicht übel? Ich wette, wenn man diese Dinger nach Europa verschiffen und dort verkaufen würde, würde man ein Vermögen verdienen!«
»Vorausgesetzt allerdings, es gelänge, diesen Kügelchen eine angenehmere Geschmacksnote zu verleihen«, ergänzte John. Beide lachten.
Während er ein zweites Koka-Bällchen in den Mund schob und darauf herumzukauen begann, fiel ihm wieder die Indio-Frau auf, die in Quito ihren Mann verloren hatte. Umringt von anderen Eingeborenen kam sie den kaum zwei Meter breiten Pfad herunter, den Blick starr auf den Boden gerichtet, um nicht versehentlich auszurutschen. Das Bündel auf ihrem Rücken – ein mit dicker Schnur festgezurrter Leinensack von der Größe eines ausgewachsenen Schweins – bildete ein zusätzliches Handicap. John konnte nicht erkennen, was sich darin befand, aber so, wie die Frau unter der körperlichen Anstrengung keuchte, ahnte er, wie schwer sie unter der Last zu tragen hatte.
Sie war schmaler, als John sie in Erinnerung hatte. Ihr Gesicht wirkte mager, beinahe dürr, doch das tat ihrer Schönheit kaum einen Abbruch. Die ebenmäßige Nase, die vollen, geschwungenen Lippen, der trotzige Stolz in ihrer Miene – das alles war nach wie vor da. Was John jedoch vermisste, war das Leuchten ihrer smaragdgrünen Augen, der bronzefarbene Teint ihrer Haut und das glänzende, seidige Schwarzblau, in das das Sonnenlicht ihr Haar verwandelte. Verdammter Nebel!
»Am besten, Ihr schlagt sie Euch aus dem Kopf, mein Freund!«, sagte Fuentes.
»Sieht man mir meine Gedanken so deutlich an?«
»Es fehlt nur noch, dass Ihr auf Knien hinter ihr herkriecht und zu sabbern anfangt.« Das Wiesel grinste ihn schief an.
John fühlte sich irgendwie ertappt. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.
»Sie ist natürlich nett, die Kleine«, fuhr Fuentes fort. »Sehr nett sogar. Aber genau das ist das Problem, Amigo. Ihr seid nicht der Einzige, dem sie die Sinne betört hat. Also noch mal: Schlagt sie Euch aus Eurem verfluchten Dickschädel, wenn Ihr ihn noch eine Weile auf dem Hals tragen möchtet. Mit La Roqua ist in solchen Dingen nicht zu spaßen. Er sieht dann rot, versteht Ihr? Er hat gute Männer schon aus geringerem Anlass als Eifersucht getötet.«
Dass der spanische Hauptmann ein Auge auf das Indio-Mädchen geworfen hatte, war John bereits in Quito aufgefallen. Er hatte sie vergewaltigt. Allerdings hatte John dahinter keine ernsthaften Gefühle vermutet, sondern lediglich das Anspruchsdenken des typischen Eroberers gegenüber den hübschen Töchtern der Unterdrückten.
»Hat La Roqua deshalb auch ihren Mann umgebracht?«, fragte er.
Wieder legte sich ein schiefes Lächeln auf das Gesicht des Wiesels. »Aus Eifersucht? Natürlich. Aber auch aus Rache. Dieser Mann hat La Roqua überrascht, als der sich zum ersten Mal über seine Frau hermachte. Also tat er das, was vermutlich jeder in seiner Situation getan hätte: Er griff La Roqua an. Mit einem Schürhaken. Schlug ihm damit ein paar Mal kräftig gegen den Rücken, bevor La Roqua von seinem Weib abließ und ihn
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