Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
Vom Netzwerk:
Knochen, die aus der Haut ragten. Geschundene Leiber mit blutigem Fell. Und inmitten des grässlichen Totenbündels der verdrehte Körper des Lama-Führers.
    Dennoch regte sich dort unten etwas. Beinahe traute John seinen Augen nicht. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit und offensichtlich unter größten Schmerzen hob der Indio seinen Arm. Er lebte! Die Lamas hatten seinen Aufprall abgefedert und ihn so vor dem Tod bewahrt.
    »Wir müssen ihn heraufholen«, murmelte John mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. Rasch sah er sich um. Laut sagte er: »Hat jemand ein Seil?« Keiner der Indios antwortete. Verstanden sie ihn nicht, oder standen sie noch zu sehr unter Schock? John probierte es noch einmal: »Hört ihr nicht? Wir brauchen ein Seil! Schnell!«
    Ein junger Bursche, etwa sechzehn Jahre alt, löste sich aus der Gruppe und rannte ein Stück bergauf, wo er sich an einem der Packlamas zu schaffen machte. John verlor ihn allerdings rasch aus den Augen, da von oben und unten immer mehr Neugierige nachrückten und einen schier undurchdringbaren Pulk bildeten. Jeder wollte wissen, was passiert war.
    Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, brach die Indio-Schönheit durch die Menschenmenge. Trotz ihrer zierlichen Gestalt hatte sie es irgendwie geschafft, sich bis nach vorne durchzukämpfen. Für John hatte sie keine Augen, ihr Blick richtete sich einzig und allein in den Abgrund. Was sie sah, schien sie noch mehr zu treffen als alle anderen. John beobachtete sie genau. Im ersten Moment schien sie nur erschreckt über den grauenvollen Anblick, dann aber legte sich so etwas wie Erkenntnis über ihre Miene, gefolgt von einem Ausdruck grenzenlosen Schmerzes. Ihre weit aufgerissenen Augen begannen, nass zu glänzen. Mit zitternden Fingern berührte sie ihre offenen Lippen, ihrer Kehle entrang sich ein langgezogener Klagelaut. Im selben Moment sanken ihre Schultern nach unten, als wäre sie mit einem Mal all ihrer Kraft beraubt. Sie machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment einen Schwächeanfall erleiden und zusammenbrechen.
    John berührte sie vorsichtig am Arm. »Wir werden den Mann bergen«, sagte er in der Hoffnung, die Frau könne ihn verstehen. Um seine Worte zu unterstreichen, deutete er den Hang hinab und machte eine entsprechende Geste.
    Die tränennassen Augen der Frau richteten sich auf ihn. Sie sagte etwas in ihrer Sprache, das John nicht verstand, aber es klang so flehend, dass er sie am liebsten umarmt und an sich gedrückt hätte. Es erstaunte ihn selbst, wie sehr er mit ihr litt. Wie sehr er sich wünschte, sie von ihrem Kummer erlösen zu können.
    Sie schien zu begreifen, dass er sie nicht verstand. »Ich bitte Euch, Herr, helft ihm«, wisperte sie schließlich. »Helft ihm, er ist mein Bruder.«
    John schluckte. Das Schicksal meinte es wahrlich nicht gut mit diesem engelsgleichen Wesen. Zuerst hatte sie ihren Mann verloren und ihr Kind in Quito zurücklassen müssen. Jetzt lag ihr Bruder schwer verletzt dort unten.
    John legte ihr die Hände auf die Schultern. »Sieh mich an«, sagte er mit fester Stimme und wartete, bis sie seiner Aufforderung nachkam. »Wir werden ihn bergen. Ich verspreche es. Dein Bruder wird dort unten nicht sterben.«
    Die Frau nickte tapfer.
    John wusste nicht, was ihn mehr motivierte: der Wunsch, einem Verletzten zu helfen, oder die Gelegenheit, die junge Frau für sich einzunehmen. Vermutlich beides. Jedenfalls fühlte er sich von unstillbarem Tatendrang erfasst.
    »Wo bleibt das Seil?«, rief er über die Köpfe der Umstehenden hinweg.
    »Hier, Herr! Hier ist es!« Die Stimme kam von irgendwo weiter hinten im Pulk.
    John vollführte eine ungeduldige Handbewegung, als wolle er die Menschenmenge kraft seines puren Willens teilen. »Macht Platz für meinen Helfer!«, rief er. »Beeilung! Lasst ihn endlich durch! Na macht schon!« Tatsächlich befolgten die Leute seinen Befehl. Inmitten des Pulks bildete sich eine schmale Gasse, durch die der Bursche schlüpfte, der das Seil geholt hatte.
    Beobachtet von unzähligen Augenpaaren, befestigte John den Strick an einem vorstehenden Felsen. Als er das lose Ende schnappte, um es über die Klippe zu werfen, wurde ihm klar, dass die Länge des Seils niemals für den erforderlichen Fünfzig-Meter-Abstieg ausreichen würde.
    »Wir brauchen mehr davon!«, rief er. »Mehr Seile, noch mindestens zwei oder drei!« Der Verletzte musste schließlich auch sicher verknotet werden.
    Angestachelt von Johns Optimismus, bahnten sich einige Indios den

Weitere Kostenlose Bücher