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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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übermächtig. Wenn er nichts unternahm, würde der verletzte Indio am Fuß des Abgrunds einen grausamen Tod sterben und die Frau ihren Bruder verlieren. John musste einfach einschreiten. Er packte das Pferd am Zaumzeug und brachte es mit einem heftigen Ruck zum Stehen.
    »Ortega, was soll das?«, zischte La Roqua. »Lasst auf der Stelle das Pferd los, sonst schlage ich Euch eigenhändig den Arm ab!«
    John wusste, dass er sich jetzt endgültig entscheiden musste, und er befand sich in einer verdammten Zwickmühle. La Roquas Drohung war zweifellos ernst gemeint, es war also die gesündere Alternative, seinem Befehl zu gehorchen und ihm für den Rest der Reise möglichst nicht mehr in die Quere zu kommen. Andererseits konnte John nicht länger wegsehen, wie der spanische Hauptmann seine Machtstellung missbrauchte und willkürlich über Wohl und Weh der Indios bestimmte.
    »Ich sage es kein zweites Mal, Ortega!«, knurrte La Roqua, während er seine Hand gleichzeitig zum Schwert an der Hüfte führte. Langsam, als gewähre er John eine allerletzte Chance, zog er es aus der mit Leder überzogenen und zahllosen Edelsteinen besetzten Scheide. Das Geräusch, das dabei entstand, hörte sich an, als würde er seine Klinge an einem Wetzstein schleifen.
    John hielt das Pferd noch immer fest – weniger, weil er sich bewusst dafür entschieden hatte, als vielmehr aus Angst. Er fühlte sich wie gelähmt. Ihm wurde ganz flau im Magen, sein Herz hämmerte wild in seiner Brust, und seine Kehle fühlte sich staubtrocken an. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, wie weit sich seine Körperwerte noch verändern mussten, bis der Mikrochip in seinem Unterarm Alarm schlug und Gordons Zeitmaschine ihn in die Gegenwart zurückholte. Sein Pulsschlag musste weit jenseits der Normalität liegen, und in seinen Adern floss garantiert mehr Adrenalin als Blut. Nur half ihm das im Augenblick nicht weiter.
    La Roquas Geduld war offenbar erschöpft. Ohne ein weiteres Wort hob er sein Schwert über den Kopf und ließ es schwungvoll niederfahren. Johns Starre fiel gerade noch rechtzeitig von ihm ab, um in die Hocke gehen und dem Hieb ausweichen zu können. Dicht über ihm schlug die Klinge ins Leere. Doch ihm blieb keine Zeit zum Aufatmen, denn in diesem Moment ließ La Roqua sein Pferd aufsteigen. John wollte ausweichen, fiel aber rücklings auf den Fels. Panisch blickte er auf. Von unten wirkte alles noch viel bedrohlicher. La Roqua – in einer Hand die Zügel, in der anderen das Schwert – kam ihm vor wie ein Reiter der Apokalypse. Geschickt dirigierte er sein auf den Hinterbeinen tänzelndes Ross, um es im geeigneten Augenblick auf John niederfahren zu lassen. Unter dem Einfluss dieses Irren wurde der Hengst zu einer lebensgefährlichen Waffe.
    Instinktiv rollte John sich zur Seite. Die Vorderhufe des Hengstes donnerten so dicht neben seinem linken Ohr auf den Boden, dass er glaubte, ihm platze das Trommelfell. Er ignorierte es, wollte sich weiterrollen, doch irgendetwas hielt ihn plötzlich zurück, ein Widerstand am Hals, der an ihm zerrte. Von blanker Hysterie ergriffen, riss John sich davon los – keine Sekunde zu früh, wie er feststellte, denn genau an der Stelle, an der eben noch sein Kopf gelegen hatte, trommelten jetzt Pferdehufe gegen den Fels.
    Endlich schaffte John es, wieder auf die Füße zu kommen. Als La Roqua zum zweiten Mal mit dem Schwert nach ihm schlug, tauchte er unter dem schwarzen Schädel des Hengstes hindurch auf die andere Seite. Dabei erkannte er im Augenwinkel, was ihn zuvor am Wegrollen gehindert hatte: Auf dem Boden lag die Kette mit dem Kruzifix, die Gordon ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Johns Lebensversicherung für den Notfall. Er musste die Kette unter allen Umständen wieder an sich bringen.
    La Roqua holte zu einem dritten Schlag mit seinem Schwert aus, doch diesmal war John besser vorbereitet. Er duckte sich und ließ den Schlag ins Leere laufen, während er erneut nach dem Zaumzeug des Hengstes griff. Irgendwo hatte er einmal gehört, das Maul eines Pferdes sei eine seiner empfindlichsten Stellen. Diesen Umstand wollte er sich jetzt zunutze machen. Mit aller Gewalt riss er an der Trense. Das Tier wieherte auf – es klang beinahe wie der Schrei eines Menschen –, wankte zur Seite und geriet ins Stolpern. Für Jorge La Roqua kam der Richtungswechsel so überraschend, dass er das Gleichgewicht verlor. Hilflos ruderte er mit seinem Schwert in der Luft, vergeblich! Er stürzte

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