Incognita
Weg zu ihren Lamas. Gleich darauf waren sie wieder zurück und machten sich daran, die Seile miteinander zu verbinden. Zu aufgeregt, um tatenlos zuzusehen, packte John ebenfalls mit an. Sie hatten ihre Arbeit noch nicht zu Ende gebracht, als eine resolute Stimme ertönte: »Halt! Ich befehle Euch, auf der Stelle damit aufzuhören!« Auf seinem pechschwarzen Hengst bahnte Jorge La Roqua sich rücksichtslos seinen Weg durch die Menschenmenge.
John stand auf. Als der spanische Hauptmann bei ihm anlangte, fühlte er sich plötzlich wie ein Zwerg neben einem Riesen. La Roqua war ein Goliath. Der geborene Kämpfer. Seine grimmige Miene, seine muskulöse Statur, sein gebieterischer Auftritt und nicht zuletzt seine Skrupellosigkeit machten ihn zu einer Autorität, deren Befehle man besser nicht missachtete.
John zwang sich, dem Spanier geradewegs in die Augen zu sehen. »Ein Lama-Führer ist den Abhang hinabgestürzt. Die Tiere scheinen tot zu sein, er selbst lebt aber noch. Wir wollen ihn bergen, damit seine Wunden versorgt werden können«, erklärte er.
La Roquas Augen hafteten starr auf ihm, sie schienen ihn regelrecht zu durchdringen. Was fällt dir ein, eigenmächtig eine solche Entscheidung zu treffen ?, sagte dieser Blick. Der Einzige, der hier Befehle erteilt, bin ich!
John hatte den Eindruck, sich rechtfertigen zu müssen. »Der Mann dort unten braucht Hilfe«, insistierte er. »Wenn wir ihn nicht heraufholen, wird er sterben!« Er spürte, dass das Argument nicht ausreichte, um La Roqua zu überzeugen. »Der Verletzte ist ihr Bruder«, sagte er und griff nach dem Arm der Indio-Frau in der Hoffnung, La Roquas Zuneigung zu ihr würde ihn empfänglich für ihre Belange machen. Selbst wenn nicht, so mochte der Spanier zumindest Menschlichkeit vortäuschen, um die Frau für sich zu gewinnen. Doch als John die eisige Miene La Roquas sah, wusste er, dass er einen fatalen Fehler begangen hatte.
»Wer immer diesen Abgrund hinuntergestürzt ist – wir ziehen weiter!« Die Stimme des Hauptmanns hallte kalt von den Bergwänden wider. »Durch das Erdbeben haben wir schon genug Zeit verloren. Wir können uns keine weiteren Verzögerungen leisten! Außerdem« – er blickte vom Sattel aus in die Tiefe – »werden wir diesen Mann ohnehin nicht retten können. Er ist so gut wie tot. Jeder Versuch, ihn zu bergen, würde sein Leiden nur hinauszögern.«
Ich hätte es wissen müssen, dachte John. La Roqua duldet keinen potenziellen Beschützer an der Seite dieser Frau. Zuerst hat er ihren Mann getötet, jetzt stellt er die Weichen so, dass sie auch noch ihren Bruder verliert. La Roqua will sie nicht durch Sanftmut gewinnen, er will ihren Willen brechen.
Tatsächlich schien dieser Moment bereits gekommen. Die Indio-Frau stieß einen schrillen Laut der Verzweiflung aus. Tränenüberströmt umfasste sie Jorge La Roquas Stiefel, die in dreckverkrusteten Steigbügeln steckten, und presste ihr Gesicht daran. Mit flehendem Blick und brüchiger Stimme sah sie zu dem Riesen im Sattel auf. »Bitte, Herr, tut mit mir, was Ihr wollt, aber verschont das Leben meines Bruders! Ich weiß, Ihr könnt ein guter Mensch sein, wenn Ihr es nur wollt. Lasst nicht zu, dass er dort unten einsam und allein sterben muss!«
Jorge La Roquas Miene blieb unbewegt. »Ich kann nicht den kompletten Zug wegen eines Mannes aufhalten, dessen Leben ohnehin nicht mehr zu retten ist, mag er nun dein Bruder sein oder nicht.«
Die Frau klammerte sich fester an seine Stiefel. »Bitte, Herr, habt Erbarmen … Erbarmen, ich flehe Euch an …« Der Rest ging in einem flehenden Weinkrampf unter.
La Roqua, hoch zu Ross, ließ sich davon nicht beeindrucken. »Genug jetzt!«, fuhr er die Frau an. Zwei spanischen Fußsoldaten, die sich ebenfalls in der Menschentraube befanden, bellte er zu: »Ihr sorgt dafür, dass der Zug sich wieder in Bewegung setzt! Verstanden? Sonst seid ihr die nächsten, die diesen Abhang hinunterstürzen!«
Den wimmernden Aufschrei der Indio-Frau ignorierend, riss er an den Zügeln seines Pferdes. Um ihn herum bildete sich ein Kreis – niemand wollte unter die Hufe des Tieres geraten oder auch nur den Zorn La Roquas auf sich ziehen. Er bedachte die Frau mit einem letzten triumphierenden Blick und gab seinem Hengst die Sporen.
In diesem Moment platzte John der Kragen.
Obwohl er wusste, dass er in dieser Welt nur Gast war und es gegen jegliche Vernunft verstieß, als solcher aktiv ins Geschehen einzugreifen, war der Drang, etwas zu tun,
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