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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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stets in seiner Nähe zu bleiben. Auch wenn er ein komischer Kauz war, hatte John nichts dagegen. Er empfand es sogar als beruhigend, denn Fuentes schien es gut mit ihm zu meinen. In dieser fremdartigen Welt so etwas wie einen Freund an der Seite zu wissen, gab John das Gefühl von Sicherheit.
    »La Roqua hat Euch letzte Nacht ganz schön rangenommen, was?«, kicherte Fuentes, während er ungeniert gegen einen Baum pinkelte. Scheinbar hatte er die Auseinandersetzung mitbekommen. »Aber im Grunde ist seine Reaktion nicht allzu verwunderlich, wenn man bedenkt, wie Ihr ihn gedemütigt habt.«
    »Gedemütigt?«
    »Oh süße Eitelkeit! Spielt nicht das Unschuldslamm! Ihr wisst genau, wovon ich rede. Als Ihr ihn am Bergabhang aus dem Sattel holtet – das war mehr, als unser Hauptmann vertragen kann. Ich bin sicher, er hätte Euch längst umgebracht, wenn Don Pizarro es ihm nicht ausdrücklich untersagt hätte. Ihr könnt von Glück sagen, dass Ihr keiner von unseren Leuten seid, sondern ein Abgesandter Orellanas. Pizarro will es sich mit seinem Cousin wohl nicht verscherzen, weshalb Ihr unter seiner besonderen Obhut steht – zumindest so lange, bis Orellana endlich zu uns stößt. Falls er das überhaupt jemals tut.«
    Dass Francisco de Orellana die Expedition noch nicht eingeholt hatte, gab John eine ungefähre Vorstellung davon, wo sie sich momentan befanden: irgendwo zwischen dem Fuß der Anden im Westen und dem Lauf des Rio Coca im Osten. Also hatten sie den Dschungel gerade erst betreten. Der Zwischenfall mit Jorge La Roqua konnte nicht länger als ein paar Tage zurückliegen.
    »Was ist mit dem verletzten Lama-Führer geschehen?«, fragte John.
    »Na, was wohl?«
    »Er ist tot?«
    »Das will ich für ihn hoffen, sonst würde er noch immer am Berg dahinvegetieren.« Fuentes sah John lange und eindringlich an. »Um Euch mache ich mir allerdings weit ernsthaftere Sorgen«, fuhr er schließlich fort. »Mit Eurem Gedächtnis scheint es noch immer nicht besser geworden zu sein. Tut mir einen Gefallen, und lasst Euch den Kopf untersuchen, wenn wir wieder in Quito sind.«
    John erwiderte darauf nichts.
    Mit der anbrechenden Morgendämmerung erwachte auch der Rest des Zuges allmählich zum Leben. Indios und Spanier erhoben sich von ihren Schlafstätten, vertraten sich die Beine und verstauten ihre wenigen Habseligkeiten für die weitere Reise. Die Feuerstellen wurden gelöscht, die Lasttiere neu bepackt und die Pferde gesattelt. Binnen kürzester Zeit waren sämtliche Vorbereitungen für den Abmarsch getroffen. John staunte nicht wenig, wie reibungslos alle Mitglieder des Trosses Hand in Hand arbeiteten. Er selbst kam sich in dem emsigen Treiben seltsam überflüssig vor, weil er nicht wusste, wo er mit anfassen sollte. Also versuchte er wenigstens, den Schein zu wahren, und tat so, als sei er äußerst beschäftigt. Niemandem fiel auf, dass er sich kaum nützlich machte.
    Noch bevor die Morgensonne den Frühnebel vertrieben hatte, setzte sich der Zug in Bewegung. Still lag der Wald vor ihnen, als habe er sich in der Nacht auf ewig zur Ruhe gebettet. Ein schlafendes Stück Natur, unberührt und kraftvoll in seiner natürlichen Pracht wie zu Anbeginn der Zeit. Vereinzelt war das wehklagende Seufzen der Brüllaffen zu hören.
    Mit Beilen und Macheten schlug der Tross sich eine Schneise durch den Wald. Die strenge Marschordnung von Quito galt längst nicht mehr. Reiter, Fußsoldaten und indianische Träger hatten sich zu kleinen Grüppchen formiert und reihten sich in zufälliger Abfolge aneinander wie unterschiedliche Perlen an einer Schnur. Das Ganze wirkte wesentlich disziplinloser als vorher, aber auch weitaus sympathischer. Der Urwald ließ die Menschen näher zusammenrücken, machte sie, wenn schon nicht gleich, so doch wenigstens ein kleines bisschen gleicher. Nur die Schweine und Lamas bildeten nach wie vor das Schlusslicht, weil sie eine breite Spur aus Fäkalien hinter sich herzogen, die niemand durchwaten wollte.
    Je tiefer sie in den Urwald eindrangen, desto mehr überkam John das Gefühl, in eine fremde, andersartige Welt vorzustoßen. Vor Jahren hatte er einen Abenteuerurlaub im südamerikanischen Regenwald verbracht, im Manu-Nationalpark, doch heute präsentierte sich ihm ein komplett anderes Bild. Bäume, Sträucher und Farne – alles sah viel derber aus als in seiner Erinnerung, als habe jemand ein Bild mit einem zu dicken Pinsel gemalt. Die Blätter und Blüten der zahlreichen Bromelien und Orchideen

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