Incognita
unaufhaltsam aus dem Sattel.
Doch selbst im Sturz verlor er sein Ziel nicht aus den Augen. Erstaunlich behände stieß er sich von den Steigbügeln ab und kam in hohem Bogen angeflogen. John, der mit diesem Angriff überhaupt nicht mehr rechnete, wurde von der Wucht des Aufpralls einfach weggefegt. Er hatte das Gefühl, unter einer Lawine begraben zu werden, das Gewicht La Roquas raubte ihm den Atem. Für einen Moment versank alles um ihn herum in schwarzem Nebel. Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, sah er nur noch eine riesige Faust in Lederhandschuhen auf sein Gesicht zurasen. Dann wurde es schon wieder dunkel um ihn herum. Diesmal für länger.
Kapitel 9
John schlug die Augen auf, aber es blieb dunkel, was ihn verwirrte. Rasch kehrte die Erinnerung an die Auseinandersetzung mit Jorge La Roqua zurück. Ihm war, als habe der Kampf erst vor wenigen Minuten stattgefunden. Dennoch fehlte der wichtigste Teil: Was genau war geschehen? Weshalb konnte er nichts mehr sehen? Was hatte La Roqua mit ihm angestellt? Ein Schauder überfiel ihn und ließ ihn frösteln.
Er wurde sich darüber bewusst, dass er mit dem Rücken auf dem Boden lag, aber der Untergrund war nicht mehr felsig, sondern angenehm weich. Mit den Händen tastete John seine Umgebung ab. Er lag auf einer mit Laub gepolsterten Decke, daher seine bequeme Lage. Seine Finger wanderten weiter über den Deckenrand hinweg, bekamen jetzt feuchte Erde zu spüren. Ein paar Zentimeter weiter stieß er gegen ein festes Gebilde mit rauer Oberfläche und langgezogener Form – eine mächtige Wurzel, wie John feststellte. Also befand er sich im Dschungel. Dies war der Beginn seiner dritten Etappe. Der letzte Zeitsprung hatte ihn mitten im Kampf mit Jorge La Roqua ereilt. Genau dieser Umstand hatte ihn wohl gerettet, denn John zweifelte nicht daran, dass der spanische Hauptmann ihn andernfalls getötet hätte. John war kein Kämpfer. Er hatte sich erst ein einziges Mal in seinem Leben richtig geprügelt – mit Gordon, natürlich aus Eifersucht. Das war acht Jahre her. Und die spielerischen Raufereien und Schwertduelle auf Caldwell Island hatten ihn nur unzureichend auf das erbitterte Zusammentreffen mit Jorge La Roqua vorbereitet. Luiz Ortega hingegen war offenbar in der Lage gewesen, sich zu verteidigen, nachdem Johns Seele ihn wieder sich selbst überlassen hatte.
Allerdings beunruhigte John allmählich, dass er nach wie vor nichts sehen konnte. Was hatte La Roqua ihm angetan? Ihm die Augen ausgestochen? Ihn geblendet?
Ich muss verrückt gewesen sein, mich gegen ihn aufzulehnen, dachte John. Natürlich hatte er aus gutem Grund so gehandelt. Dennoch war es rückblickend betrachtet Wahnsinn gewesen.
Irgendetwas krabbelte ihm über die Hand, beinahe ebenso schwer wie ein Golfball. Was war das? Ein Insekt? Eine Spinne? Ein Tausendfüßler? Als John sich klarmachte, wie groß das Tier sein musste, um ein solches Gewicht auf die Waage zu bringen, bekam er eine Gänsehaut. Vor seinem geistigen Auge nahm ein gewaltiger Käfer mit langen, borstigen Beinen und mächtigen Kieferwerkzeugen Gestalt an. Mit einer raschen Handbewegung schleuderte er das Insekt von sich. Die Gänsehaut hielt aber noch eine ganze Weile an.
Während er einfach nur dalag und darauf hoffte, keine weiteren Bekanntschaften mit Rieseninsekten zu machen, begann die Finsternis um ihn herum allmählich Konturen anzunehmen. Irgendwo, scheinbar in weiter Ferne, zeichneten sich winzige Lichter im Meer der Dunkelheit ab. Erstaunlich langsam begriff John, dass es sich dabei um Sterne handelte. Es war Nacht. Er lag mitten im Dschungel unter einem dichten Baldachin aus Blättern und Zweigen. Nur wenig Licht durchdrang die Kronen der Bäume, daher hatte er vorher nur Schwärze gesehen. Erleichtert atmete er auf.
Er stand auf und reckte die steifen Gliedmaßen. Sein Nacken war verspannt, sein Rücken ebenso. Er kam sich vor, als bestünden seine Knochen aus Pudding. Außerdem fror er, obwohl es längst nicht mehr so kalt wie im Gebirge war. Doch selbst die Decke, die John als Unterlage benutzte, hatte die Feuchtigkeit des Urwaldbodens nicht abhalten können. Seine Kleidung war klamm und klebte auf der Haut. Der Brustpanzer, den er selbst während des Schlafs nicht ausgezogen hatte, kühlte ihn zusätzlich aus. Er sehnte sich nach einer heißen Dusche und einer dampfenden Tasse Kaffee.
Er ließ seinen Blick durch die Nacht schweifen. Irgendwo, verborgen hinter unzähligen Baumstämmen, Büschen und
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