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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Farnen, schien ein Feuer zu brennen. Der schwache, orangerote Schimmer war mehr zu erahnen als tatsächlich zu erkennen, schon gar nicht vermochte er, Johns Umgebung zu erhellen.
    Er fragte sich, wie viel Zeit seit dem Anden-Abstieg wohl vergangen war, wo genau die Expedition sich befand und wie viele Verluste sie inzwischen hatte hinnehmen müssen. Ganz automatisch kam John auch die Frage in den Sinn, ob die namenlose Indio-Frau noch am Leben war und wie es ihr wohl erging.
    Ein gutes Stück hinter ihm raschelte etwas. Er fuhr herum, versuchte, den Wald mit Blicken zu durchdringen, konnte jedoch nichts erkennen. In dieser Richtung war der Dschungel nur eine pechschwarze Wand, hinter der sich buchstäblich alles verbergen konnte.
    Wieder das Rascheln, diesmal näher, höchstens zehn Meter entfernt. John hielt instinktiv den Atem an, rührte sich nicht. War das ein Mensch? Ein Teilnehmer der Expedition, der aufgewacht war und seine Blase entleeren musste? Oder hatte sich ein Tier hierher verirrt?
    »Pst! Wer ist da?« Obwohl er flüsterte, kam ihm seine Stimme unpassend laut vor. Er lauschte in die Nacht, erhielt aber keine Antwort. Allmählich begann er, nervös zu werden. Seine Hand tastete nach seinem Schwertknauf, und obwohl er nicht besonders viel Übung im Umgang mit der Waffe hatte, geschweige denn ein Ziel erkennen konnte, durchströmte ihn ein beruhigendes Gefühl.
    Noch bevor er das Schwert ziehen konnte, hörte er das Rascheln jedoch erneut, diesmal unmittelbar hinter sich. Im selben Moment packten ihn zwei derbe Pranken am Hals und rissen ihn von den Beinen. Er fiel rückwärts durch die Finsternis, prallte hart gegen den Boden, rang nach Luft. Etwas Großes, Schweres wälzte sich auf ihn und schlug ihm gegen das Kinn, so hart, dass hinter Johns Augäpfeln bunte Ringe zu tanzen begannen. Benommen versuchte er, die Zentnerlast von sich zu stemmen – erfolglos. Nasses, nach Moder riechendes Haar berührte sein Gesicht, und der Gestank sauren Atems stieg ihm in die Nase. »Ich habe es Euch schon einmal gesagt«, zischte eine Stimme. »Ich dulde es nicht, dass jemand während seiner Wache schläft. Das Leben zu vieler Menschen steht auf dem Spiel.« Ein weiterer Schlag ins Gesicht. »Lasst Euch das eine Lehre sein, Ortega! Das nächste Mal kommt Ihr nicht mehr so ungeschoren davon! Und jetzt seht zu, dass Ihr das Feuer wieder in Gang bekommt!«
    Die Dunkelheit ließ es nicht zu, ein Gesicht zu erkennen, aber es war unverkennbar Jorge La Roqua. John wollte etwas erwidern, brachte jedoch vor Schmerz keinen Ton heraus.
    Der Spanier wälzte sich von ihm und verschwand wieder in der Nacht. Gott allein wusste, wie er sich in der Finsternis orientieren konnte. Das Rascheln des Laubs wurde zusehends leiser und verstummte schließlich ganz.
    Johns Unterkiefer glühte. Er betastete die schmerzende Stelle, aber sie blutete nicht. Soweit er es beurteilen konnte, war auch nichts gebrochen. Jorge La Roqua hatte ihm offenbar nur Angst einjagen wollen.
    Der Morgen dämmerte. Vor dem grauen, wolkenverhangenen Himmel zeichneten sich die Kronen der Bäume als filigrane Muster ab – der Wald nahm allmählich Gestalt an. Was zuvor vom Mantel der Nacht umhüllt gewesen war, gewann jetzt an Kontur. Urwaldriesen mit ausladenden Brettwurzeln ragten weit in die Höhe, kleinere Bäume füllten die freien Plätze zwischen ihnen und ließen den Wald zu einem einzigen gigantischen Blättergeflecht verschmelzen. Schlingpflanzen rankten sich an den Stämmen empor. Lianen, dick wie Schiffstaue, hingen lose zwischen den Ästen, dicht überwuchert von fetzenartigen Moosteppichen. Und inmitten dieser urtümlichen, märchenhaften Landschaft standen die Nebelschwaden, schwerelos, wie Skulpturen aus weißer Seide. Ein Bild wie vor Millionen von Jahren – kraftvoll und erhaben, aber auch mystisch und unheimlich.
    John saß auf einem umgefallenen Baumstamm und versuchte, die Müdigkeit zu ignorieren, die ihm in jedem Knochen steckte. Gegen die kriechende Kälte der Nacht hatte er sich zwei Pferdedecken über die Schultern gelegt. Neben ihm kokelte das heruntergebrannte Feuer. Wie lange er schon hier saß und Wache hielt, konnte er nicht sagen. Jorge La Roquas Drohung zum Trotz war er beim Wacheschieben mehrmals eingenickt.
    Ein heiseres Kichern ließ ihn vollends aufwachen, es klang wie das Lachen eines Irren. John schreckte auf und sah sich um. Dicht hinter ihm stand Felipe Fuentes, das Wiesel, der es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hatte,

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