Incognita
wirkten weniger filigran, ihr Farbenspiel nicht ganz so leuchtend. Wohin John auch blickte, dieser Wald war rudimentärer, detailärmer. Archaischer. Und dadurch umso faszinierender. Diese Reise zog ihn stärker in ihren Bann, als er es je für möglich gehalten hätte. Sie verdiente die Bezeichnung Abenteuer mehr als jede andere von Johns Urlaubsaktivitäten. Vom Reichtum verwöhnt, doch vom Leben gelangweilt, hatte er jahrelang die waghalsigsten Herausforderungen gesucht, aber im Vergleich zu dieser Zeitreise versanken sie in der absoluten Bedeutungslosigkeit. Selbst Caldwell Island wirkte daneben beinahe fade, wie ein bemühter, aber billiger Abklatsch des echten Lebens.
Während er weiter über die Möglichkeiten nachdachte, die Gordons Zeitmaschine bot, folgte er dem Tross immer tiefer in den Wald hinein, in eine Welt, die nie zuvor ein Europäer gesehen hatte. Eine Welt, um die sich unzählige Legenden rankten. Eine Welt voller Überraschungen.
Der Dschungel veränderte sich, je weiter der Tross nach Osten vorstieß. Es war erstaunlich, ja geradezu unheimlich, wie schnell das Antlitz des Waldes sich wandelte. Beinahe im Minutentakt entdeckte John etwas Neues. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er vermutet, dass irgendeine höhere Macht, die es darauf anlegte, ihn gleichermaßen zu verwirren wie zu beeindrucken, ihre Finger im Spiel hatte. Falls die anderen Teilnehmer des Zuges ähnlich dachten, ließen sie es sich zumindest nicht anmerken.
Nicht nur die Art des Pflanzenbewuchses änderte sich, auch Leuchtkraft und Facettenreichtum der Blüten und Blätter nahmen deutlich zu. Was beim morgendlichen Abmarsch noch grobflächig und derb gewirkt hatte, gewann zunehmend an Farbe, Struktur und Kontrast. John kam es vor, als käme er dem Garten Eden mit jedem Schritt ein wenig näher.
Allerdings wurde das paradiesische Flair schon bald wieder von Sorgen vertrieben, denn je weiter sie in den Wald vorstießen, desto klarer wurde John, dass seine dritte Etappe längst hätte beendet sein müssen. Zunächst mahnte er sich zur Geduld. Die ersten zwei Etappen hatten seinem Gefühl nach ebenfalls länger als drei Stunden gedauert, aber beide Male hatte der Zeitsprung schließlich stattgefunden. In dieser fremdartigen Umgebung schien die Zeit einfach viel langsamer zu verstreichen, vermutlich, weil alles neu und ungewohnt war. Doch als der Zug anhielt, um Mittagsrast zu machen, gab es keinen Zweifel mehr: Auf dieser dritten Etappe lief tatsächlich etwas schief!
Die Beunruhigung nahm zu, als John instinktiv nach seiner Halskette tastete und feststellte, dass er sie nicht mehr um den Hals trug. Die Erinnerung durchzuckte ihn wie ein Blitzschlag: Beim Kampf mit Jorge La Roqua hatte er die Kette verloren! Jetzt lag das rettende Kruzifix irgendwo am Abhang der Kordilleren.
John bildete sich ein, normalerweise nicht der Typ Mensch zu sein, der schnell in Panik geriet, doch diese Situation war nicht normal. Der nächste Zeitsprung ließ aus unbekanntem Grund auf sich warten – wie lange, war völlig offen. Der Computerchip in seinem Unterarm half ihm nicht weiter, denn der reagierte nur auf extreme Veränderungen der Körperwerte – falls er überhaupt funktionierte, denn nach seinem Kampf mit Jorge La Roqua am Berghang war John sich da nicht mehr so sicher. Und durch den Verlust der Kette hatte er nun keine Möglichkeit mehr, seine Heimkehr willentlich herbeizuführen.
Er war ein Gefangener der Zeit!
Die Ungewissheit nahm John so gefangen, dass seine Gedanken bald nur noch um die Frage kreisten, wie es nun weitergehen solle. Nie zuvor hatte er sich in einer Situation befunden, in der er einfach nur abwarten und tatenlos auf eine glückliche Schicksalsfügung hoffen konnte. Wie sollte er sich ausgerechnet jetzt damit abfinden?
Er schauderte. Mechanisch half er beim Versorgen der Tiere. Anschließend holte er sich ebenso mechanisch seine Essensration ab, einen undefinierbaren pampigen Brei ohne Geschmack.
Erst der Anblick der Indio-Frau brachte John wieder auf andere Gedanken. Während er an einem Baumstamm lehnte und lustlos seinen Brei löffelte, nahm er sie zum erstenmal an diesem Tag bewusst wahr. Sie hatte ihre karge Mahlzeit bereits beendet und war gerade dabei, Hände und Gesicht in einer Pfütze zu waschen. Angesichts der Dschungeltemperaturen trug sie keinen dicken Wollponcho mehr, sondern ein schlichtes Kleid aus braunem Leinen, das bereits ziemlich zerschlissen und verschmutzt war. Dennoch fand John
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