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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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vor. Verwundbar. Wie ein von der Herde ausgeschlossenes Tier und damit leichte Beute für die gierigen Mäuler des Waldes. Darüber wollte er lieber gar nicht so genau nachdenken.
    Wenigstens war John nicht vollkommen allein. In Sichtweite befanden sich ein paar Schweinetreiber, außerdem leistete John ein Konquistador namens Hernán Gutiérrez de Celis Gesellschaft, der beim Glücksspiel verloren und im Glauben, betrogen worden zu sein, eine Schlägerei begonnen hatte. Für ihn war die Einteilung zur Nachhut ebenfalls als Strafe gedacht.
    Nach Johns Schätzung war Hernán Gutiérrez noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, auch wenn er den Eindruck eines alten Haudegens erweckte. Er maß nur etwa 1,65 Meter, war jedoch bei guter Kondition, nicht muskulös, sondern eher der drahtige Typ. Sein Blick wirkte ruhig, aber entschlossen, sein dunkles Haar hatte er nach hinten zu einem kurzen, stummeligen Pferdeschwanz zusammengebunden. Der Helm baumelte locker an seiner Hüfte.
    Trotz seines eher unscheinbaren Äußeren war Hernán Gutiérrez etwas ganz Besonderes: Er war der erste gewöhnliche Soldat, den John auf dieser Reise kennenlernte, dessen Existenz historisch verbürgt war. Jorge La Roqua, Felipe Fuentes, Cristóbal Loco Teixeiro, Pedro Colvedo – diese Namen hatte er nie zuvor gehört. Mit Hernán Gutiérrez war es etwas anderes. Während John mit ihm ein belangloses Gespräch begann, versuchte er sich an die entsprechende Passage seiner Doktorarbeit zu erinnern. Gutiérrez … Hernán Gutiérrez … In welchem Zusammenhang war dieser Name gefallen?
    John fiel auf, dass der Spanier nicht nur – wie er selbst – eine Armbrust auf dem Rücken trug, sondern zusätzlich eine Art Gewehr geschultert hatte: einen gedrungenen, hölzernen Schaft, in den ein ebenso gedrungen wirkender sechseckiger Metalllauf eingelassen und mithilfe zweier Eisenmanschetten fixiert worden war. Am Ende des Laufs stand ein beachtlicher Zacken von gut drei bis vier Zentimetern Länge ab, der dazu diente, die schwere Waffe abzustützen und somit für mehr Stabilität beim Schuss zu sorgen. Dieses dornartigen Fortsatzes wegen wurde die Waffe als Hakenbüchse oder – die holländische Version – als Arkebuse bezeichnet. Hernán Gutiérrez war Hakenbüchsenschütze.
    Jetzt fiel John auch wieder ein, welche Rolle der spanische Soldat bei der Eroberung des Amazonas spielte: Gutiérrez würde sich im Kampf auszeichnen, in einer kriegerischen Auseinandersetzung mit dem wohl mächtigsten indianischen Häuptling seiner Zeit – Machiparo. Nach und nach erinnerte John sich nun an weitere Einzelheiten. Die Konfrontation mit den Eingeborenen würde erst im späteren Verlauf der Reise stattfinden, im Mai des Jahres 1542, nach rund einem Drittel der gesamten Durchquerung des Amazonas-Beckens. Momentan befand sich der Zug noch am Fuß der Anden, nicht einmal zweihundert Kilometer von Quito entfernt. Bis sie das Einflussgebiet von Machiparo erreichten, würden noch Monate vergehen.
    Dem Verlauf des Kampfs zwischen Spaniern und Eingeborenen hatte John in seiner Doktorarbeit mehrere Seiten gewidmet. Dort, wo der Rio Juruá in den Amazonas mündet, verfügte Machiparo über ein Heer von 50.000 Kriegern. Wie viele davon sich den Spaniern – zu jenem Zeitpunkt nur noch 60 an der Zahl – entgegenstellten, war nicht überliefert. Auf jeden Fall handelte es sich um eine erdrückende Übermacht. Der Kampf dauerte mehrere Tage, und die Lage der Spanier spitzte sich immer mehr zu. Erst als es Hernán Gutiérrez gelang, einen Unterhäuptling mit seiner Hakenbüchse niederzustrecken, zogen die Indianer sich zurück, und die Konquistadoren konnten weiterziehen.
    Die Überlieferung dieser Heldentat war für John hochinteressant. Gutiérrez würde die Reise zumindest bis zum Mai des kommenden Jahres unbeschadet überstehen. Es schien John daher ratsam, sich den Spanier zum Freund zu machen und sich künftig verstärkt in dessen Nähe aufzuhalten. Zwar mochte Gutiérrez keine Überlebensgarantie sein, ihn an der Seite zu wissen war aber auf jeden Fall beruhigend. Er gab John neue Zuversicht, und die konnte er wahrlich brauchen, denn während er dem Tross immer tiefer in den Wald hinein folgte, holte ihn die Ungewissheit wieder ein: Seine Reise verlief nicht wie geplant. Aus irgendeinem Grund gab es Komplikationen – der ausstehende Zeitsprung war überfällig. John hatte keine Ahnung, wie es nun weitergehen sollte.
    »Was werdet Ihr mit all dem Geld machen?«,

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