Incognita
wie gelähmt. Während Jorge La Roqua die Reihen abschritt, wagte niemand, sich auch nur zu räuspern.
»Du!«, sagte La Roqua und deutete auf einen stämmigen Soldaten mit platter Nase. Ohne die Miene zu verziehen, trat der Mann aus der Gruppe hervor.
»Du ebenfalls, und du auch!«, führte der spanische Hauptmann das Auswahlmanöver fort, während er langsam die Reihen abschritt. Die Angesprochenen fügten sich widerstandslos und gesellten sich zu ihrem plattnasigen Kameraden. Weitere Soldaten folgten ihnen. Jorge La Roqua arbeitete sich systematisch durch die Mannschaft und kam John immer näher, der weit am linken Ende des Halbkreises stand.
Bitte, lass ihn nicht mich auswählen!, flehte John in Gedanken. Er wollte das Fiasko, in dem der Vorstoß enden würde, nicht miterleben. Die bloße Vorstellung, zu welcher Brutalität die ergebnislose Suche nach Gold und Zimt Pizarro treiben würde, versetzte ihn in Panik. Gier und Enttäuschung würden aus dem Spanier einen tyrannischen Barbaren machen.
Jorge La Roqua war mittlerweile in unmittelbare Nähe gerückt. John stand in der zweiten Reihe und überlegte, ob es besser sei, dem Blick des Spaniers auszuweichen oder ihm entschlossen zu begegnen. Aber wie es schien, hatte La Roqua seine Entscheidung längst getroffen.
»Du auch!«, bellte er und deutete auf John. »Geh zu den anderen! Etwas Beeilung, wenn ich bitten darf!«
John seufzte innerlich auf, wusste aber, dass ihm keine Wahl blieb, als sich zu fügen. Mit zusammengebissenen Zähnen stapfte er durch den lehmigen Boden zu seinen Kameraden.
Als La Roqua dreißig Soldaten ausgewählt hatte, erteilte er ihnen alle nötigen Befehle zur Vorbereitung der Abreise. Der Rest der Mannschaft wurde von Francisco de Orellana in Arbeitsgruppen eingeteilt, deren Aufgabe es war, das Lager für die nächsten Tage zu errichten. Rasch entwickelte sich ein reges, nahezu ameisenhaftes Treiben, in das auch John sich nahtlos einfügte. Er verfügte mittlerweile über genügend Routine, um alle Aufgaben zu erledigen, die La Roqua ihm übertragen hatte. Die Arbeiten gingen ihm leicht von der Hand. Es gab Momente, in denen er sich bereits wie ein echter Konquistador fühlte.
Eine Stunde später war der Stoßtrupp startklar – Soldaten, Bluthunde und Packtiere standen abmarschbereit unweit der Kuppelzelte, die Orellana für sich und die Offiziere hatte aufstellen lassen. Noch immer hielt sich der Nebel hartnäckig in den Büschen und im Geäst, zudem regnete es wieder einmal in Strömen. Trotz angenehmer Temperatur fröstelte John, vor allem, wenn er an die kommenden Tage dachte.
Sein Unbehagen wuchs, als er Jorge La Roqua aus dem Nebeldunst auftauchen sah, hinter sich die Gruppe von Indios, die die Vorhut begleiten sollte: Träger, Viehtreiber und ein paar Führer. Zu Johns Entsetzen befand sich auch Neya unter den Auserwählten.
»Wartet hier!«, wies La Roqua die Eingeborenen an. Zu allen sagte er: »Haltet euch bereit. Sobald Don Pizarro den Befehl dazu gibt, werden wir aufbrechen!« Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg in eines der Zelte.
Kaum hatte er der Gruppe den Rücken gekehrt, eilte John zu Neya. Er nahm sie am Arm und ging mit ihr ein paar Schritte zur Seite, sodass keiner ihr Gespräch belauschen konnte. »Tu mir einen Gefallen«, sagte er eindringlich. »Sobald wir losziehen, gib vor, über eine Wurzel zu stolpern und dir den Knöchel zu verstauchen, sodass La Roqua dich wieder ins Lager schickt. Frag mich nicht nach dem Grund. Ich will einfach nicht, dass du diesen Trupp begleitest.«
»Ihr macht Euch Sorgen um mich?«, fragte Neya mit gespieltem Ernst.
»Es ist gefährlich für dich, diesen Trupp zu begleiten! Weit gefährlicher, als im Lager zu bleiben.«
»In diesem Wald ist es überall gefährlich. Ich möchte lieber bei Euch bleiben, da fühle ich mich am wohlsten.«
John überlegte angestrengt, wie er Neya begreiflich machen konnte, dass sie hierbleiben musste. Dass sie sterben würde, wenn sie ihn begleitete. Schweren Herzens änderte er seine Taktik. »Ich liebe dich nicht!«, sagte er betont barsch. »Ich will nicht, dass du mir ständig nachläufst! Also tu, was ich dir sage, und sorge dafür, dass La Roqua dich hierlässt. Ich will dich nicht mehr sehen!«
Als er die Enttäuschung in den Augen der jungen Frau sah, glaubte er bereits, sein Ziel erreicht zu haben. Doch seine gespielte Kaltherzigkeit stellte sich als Bumerang heraus, denn Neyas Niedergeschlagenheit wich binnen Sekunden der
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