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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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wenn er Pachuro hilft«, sagte sie. »Dieser Feigling!«
    »Vermutlich hat er recht«, entgegnete John. Er war selbst hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, den Schwerverletzten zu retten, und der Angst, Pizarros Zorn am eigenen Leib zu spüren zu bekommen.
    Neya schüttelte verächtlich den Kopf. »Dann gebt mir wenigstens Euer Schwert, damit ich ihm die Fesseln durchtrennen kann.« Ohne auf Johns Antwort zu warten, griff sie nach dem Knauf seiner Waffe, zog sie aus der Lederscheide und zerschlug mit einem geschickten Hieb die Seile, die Pachuro am Stamm des Urwaldriesen festhielten. Augenblicklich sackte der blutüberströmte Körper zu Boden. Neya kniete sich neben Pachuro, beugte sich über ihn, tätschelte ihm die Wangen und versuchte, ihm eine Reaktion zu entlocken. Als es ihr trotz aller Bemühungen nicht gelang, hielt sie plötzlich inne. Ihre Augen füllten sich mit wässrigem Glanz, ihre Schultern begannen zu beben.
    John wusste, was das bedeutete: Für Pachuro kam jede Hilfe zu spät.
    Gonzalo Pizarros Übellaunigkeit besserte sich auch nach diesem Zwischenfall nicht. Er wirkte sogar noch aggressiver als zuvor. In seiner Nähe wagte kaum jemand, die Stimme zu erheben, so groß war die Furcht vor dem spanischen Oberhaupt.
    Neya machte der Tod Pachuros sehr zu schaffen. Sie weinte die ganze Zeit leise vor sich hin und wirkte wie ein Häufchen Elend. Das riesige Bündel auf ihrem Rücken war wie eine Metapher für die schwere seelische Bürde, die sie zu tragen hatte, umso mehr, als sie auch noch unter Johns vorgetäuschter Kaltherzigkeit litt. Er wusste, dass sie jemanden zum Reden brauchte, ihr Stolz es jedoch verbot, auf ihn zuzugehen. Er hatte sie abgewiesen, also war es jetzt an ihm, wieder den ersten Schritt zu tun.
    Tatsächlich gelang es ihm nach und nach, Neya zu besänftigen. Zunächst reagierte sie auf Johns Vorstöße ablehnend, sogar unwirsch, aber die Mauer, die sie um ihr verletztes Herz errichtet hatte, brach schnell in sich zusammen. Ganz offensichtlich hatte sie nur darauf gewartet, dass er endlich das Gespräch mit ihr suchte. Spätestens als ihre Finger sich vorsichtig um die seinen schlossen und sie eine Weile Händchen haltend nebeneinanderher spazierten, wusste John mit letzter Gewissheit, dass sie Jorge La Roqua nur deshalb schöne Augen gemacht hatte, um seine Eifersucht zu wecken.
    »Ich bin froh, dass wir uns wieder vertragen«, sagte sie. »Ihr habt mir sehr wehgetan.«
    »Ich weiß. Es tut mir leid.«
    »Habe ich Euch auch ein wenig gekränkt, Herr?«
    »Du meinst durch deine Spielerei mit La Roqua?«
    Sie lächelte verschämt. »Ihr wusstet, dass ich es nicht ernst mit ihm meine?«
    »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass du dich auf jemanden einlässt, der deinen Mann und deinen Bruder getötet hat. Allerdings ist unübersehbar, dass La Roqua dich liebt. Er schmilzt in deiner Gegenwart dahin. Er wird es dir übel nehmen, wenn er herausfindet, dass du ihn nur benutzt hast.«
    Neya zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Ich liebe ihn nicht. Im Gegenteil, ich verabscheue ihn. Er verdient es, dass ich ihm das Herz breche. Ich liebe nur Euch!« Bei diesen Worten blieb sie abrupt stehen. Auch John hielt an, und als er sich zu ihr umdrehte, fiel sie ihm ohne zu zögern um den Hals und drückte ihm einen langen, warmen Kuss auf die Lippen. Einen verwirrenden Moment lang wusste John nicht, wie ihm geschah. Dann jedoch ließ er sich darauf ein, ohne weiter darüber nachzudenken. Alles um ihn herum versank in Bedeutungslosigkeit, es gab nur noch ihn und Neya, einen Mann und eine Frau, die sich durch eine Laune des Schicksals über die Jahrhunderte hinweg gefunden hatten. Es war ein wunderschönes, prickelndes Gefühl.
    Aber als Neya von ihm abließ, erkannte John, dass Jorge La Roqua an der Spitze des Zuges sein Pferd angehalten hatte und sie beobachtete – gerade so, als habe er es geahnt. Seine Miene war wie versteinert.
    Drei weitere Tage verstrichen ereignislos. Gonzalo Pizarro sagte die ganze Zeit über kaum ein Wort, wenn, dann gab er nur ein paar knappe Befehle. Er wirkte zunehmend mürrisch und verbittert und nach wie vor so gereizt, dass John jederzeit mit einem neuen Wutausbruch rechnete. Allen anderen ging es wohl ebenso, denn kaum jemand sprach lauter als im Flüsterton. Der Einzige, der es wagte, Pizarro gelegentlich anzusprechen, war Jorge La Roqua, doch selbst er erhielt meist nur ruppige Antworten.
    Am darauffolgenden Tag – knapp anderthalb Wochen, nachdem sie

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