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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Neya. Auf ihrem Antlitz lag noch immer ein düsterer Schleier. »Was er über den Dschungel berichtet, erfüllt mich mit Furcht. Die Tsantsa waren erst der Anfang, und die Jívaro, die die Schrumpfköpfe herstellen, sind längst nicht die größte Gefahr, mit der wir es zu tun bekommen werden. Es gibt Gerüchte über unbarmherzige Kriegerinnen mit nur einer Brust, die jeden Eindringling töten, der es wagt, in ihr Gebiet vorzudringen. Außerdem behauptet Pachuro, dass in diesem Wald weiße Riesen und Menschen ohne Kopf leben. Ich sage Euch: Jeder Schritt, den wir weiter in Richtung Osten gehen, bringt uns dem Tod ein Stückchen näher.«
    Sie sprach so eindringlich, dass John eine Gänsehaut bekam, obwohl er wusste, dass es für jedes der von Neya beschriebenen Phänomene eine plausible Erklärung gab. Die wehrhaften Kriegerinnen mit nur einer Brust waren natürlich die legendären Amazonen. Laut Carvajals Notizen würde der Zug im weiteren Verlauf der Reise sogar von ihnen angegriffen. Aber da der Dominikanermönch Realität und Fantasie so freimütig miteinander verquickte, war John sicher, dass er diese Passage lediglich erfunden hatte. Fest stand jedenfalls, dass die Existenz der Amazonen bis in die Gegenwart hinein nicht schlüssig bewiesen worden war.
    Weiße Riesen und kopflose Menschen existierten hingegen unumstritten. Riesenindianer gab und gibt es, wenngleich die moderne Welt sie erst im Jahr 1965 entdeckt hatte, im westlichen Mato Grosso. Es sind Angehörige des Kreen-Akarore-Stamms und die größten Eingeborenen des südamerikanischen Kontinents. Nur weiß sind sie nicht, aber vielleicht mochten sie in vergangenen Jahrhunderten ihre Körper bemalt haben. Selbst die von Neya erwähnten Menschen ohne Häupter waren keine reinen Hirngespinste. Unter Völkerkundlern galt es mittlerweile als erwiesen, dass es sich bei der Kopflosigkeit um eine optische Täuschung handelte, hervorgerufen durch die Stammesangehörigen der Ewaipanoma, auch Acephalen genannt, deren Angewohnheit es war, ständig die Schultern hochzuziehen – in ihrem Kulturkreis ein Schönheitssymbol.
    John schätzte die Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung durch die Ewaipanoma und die Kreen-Akarore als ziemlich gering ein. Auch die Amazonen bereiteten ihm kein Kopfzerbrechen. Dennoch beging er nicht den Fehler, die Gefahren des Waldes zu unterschätzen. Hinter jedem Baum konnte der Tod lauern, insbesondere bei Nebel, so wie heute.
    Er bemerkte, dass Neya während seines gedanklichen Ausflugs weitergesprochen hatte. Mittlerweile war sie von den verschiedenen Eingeborenenstämmen zum Tierreich gewechselt und driftete nun mehr und mehr ins Reich der Fantasie ab. Sie berichtete von behaarten Riesenschlangen, von aufrecht gehenden Reptilien, die John an Saurier erinnerten, und von gehörnten Fabelwesen, die sich von menschlichen Herzen ernährten. Offenbar hatte Pachuro seine Erzählungen mit allzu vielen gruseligen Details ausgeschmückt.
    Auch wenn Johns Verstand ihm sagte, dass keines dieser Tiere tatsächlich existierte, bereitete ihm der Gedanke daran Unbehagen. In gewisser Weise fühlte er sich wie damals, als er als Kind aus dem modrigen Gewölbekeller seiner Großmutter Getränke heraufholen musste. Er hatte sich tausendmal gesagt, dass es weder Vampire noch Werwölfe gab, hatte jedoch gleichzeitig hinter jeder Tür und in jeder dunklen Ecke welche vermutet. Die bloße Einbildungskraft hatte über die Vernunft gesiegt – so wie jetzt. Der wabernde Nebel, gepaart mit Neyas bildhaften Beschreibungen schaffte eine Gruselstimmung, gegen die er selbst als erwachsener Mann nicht gefeit war. Beinahe befürchtete John, Neya könne allein durch die Macht der Worte die von ihr beschriebenen Fabelwesen heraufbeschwören. Wohin er auch sah, überall schienen die Silhouetten der unheimlichsten Kreaturen im Nebel zu lauern. Dunkle Gestalten, die nur noch auf den geeigneten Augenblick warteten, um sie zu holen und sie in die Tiefe des Waldes zu zerren.
    Wie düster die Stimmung auch in der Führungsriege war, erfuhr John am Mittag, als alle spanischen Soldaten zu einer Bekanntgabe zusammengetrommelt wurden. Wie bereits bei der morgendlichen Totenmesse bildeten die Männer einen Halbkreis in mehreren Reihen, diesmal jedoch nicht um den Dominikanermönch Carvajal, sondern um Gonzalo Pizarro, Francisco de Orellana und Jorge La Roqua.
    Die drei sahen noch ausgemergelter aus als alle anderen Teilnehmer des Zuges, wohl weil auf ihren Schultern die Verantwortung

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