Incognita
geschah.
Er versuchte es ein zweites Mal.
Wieder nichts.
Eigenartigerweise hielt sich seine Enttäuschung in Grenzen, wohl weil er insgeheim bereits damit gerechnet hatte. Entweder war die Funktionsstörung auf den Kampf mit Jorge La Roqua zurückzuführen, oder sie stand im Zusammenhang mit den grundsätzlichen Problemen des nächsten Zeitsprungs, die Gordons Team zu lösen hatte. Wie auch immer – das Notfallprogramm hatte versagt. Genau genommen sogar beides: die Kette und derin seinen Unterarm implantierte Mikrochip. Denn John war sicher, dass seine Blutwerte im Verlauf der Reise bereits mehrmals das kritische Limit überschritten hatten.
Er staunte über seine eigene Gelassenheit. Eigentlich hätte er Angst oder gar Panik verspüren sollen, doch mittlerweile hatte er genug Zeit gehabt, sich mit der Situation abzufinden. Er musste einfach warten, bis Gordons Team die Schwierigkeiten beseitigt hatte. Mehr konnte er nicht tun.
Obwohl es inzwischen früher Vormittag war, hielt sich der Nebel hartnäckig unter dem Blätterdach des Urwalds. Träge zog die Expedition durch die prähistorisch anmutende Landschaft. Ausladende Brettwurzeln, Riesenfarne und ein märchenhaftes Geflecht aus Lianen und Kletterpflanzen beherrschten das Bild. Schattenspiele, wohin das Auge blickte.
Die schlechte Sicht weckte Urängste, insbesondere im Zusammenhang mit der nächtlichen Katastrophe. Jedes Geräusch wurde zur potenziellen Bedrohung, selbst das kleinste Rascheln verursachte Furcht und Schrecken. Die Konquistadoren hielten ihre Waffen bereit. Die Bluthunde blieben immer wieder abrupt stehen, um den Nebel anzuknurren. Und den Trägern hatte es vor lauter Nervosität die Sprache verschlagen. Es herrschte eine geradezu gespenstische Atmosphäre. Vergessen waren die aufmunternden Worte, die Gaspar de Carvajal während der Totenmesse gesprochen hatte.
Carvajal …
Während John schweigend durch den Nebel watete, drängte sich ihm immer mehr die Frage auf, weshalb der Mönch den Verlauf der Reise nicht wahrheitsgemäß dokumentierte. Für seine Doktorarbeit hatte John sich eine Kopie des Original-Tagebuchs besorgt und alle Eintragungen sorgfältig studiert. Natürlich war ihm nicht mehr jedes Detail im Gedächtnis, aber er hatte sich intensiv genug damit befasst, um alles Wesentliche zu rekonstruieren. Und je länger er in dieser Welt weilte, desto klarer erinnerte er sich. Die Tsantsa hatte Carvajal mit keiner Silbe erwähnt. Ebensowenig den nächtlichen Angriff des Jaguars. Hielt er diese Dinge für zu unwichtig, um sie niederzuschreiben? Doch das erklärte nicht, weshalb er später ausgerechnet Hernán Gutiérrez – einen Toten – zum wichtigsten Helden der Schlacht gegen Machiparo machen sollte.
Carvajals rätselhafte Art, Tagebuch zu führen, stellte alles in Frage, was John bislang für historische Realität gehalten hatte. Einerseits beunruhigte ihn das, andererseits musste er zugeben, dass ein Teil von ihm durchaus neugierig auf ein paar Antworten war. Diese Reise barg ein Geheimnis, das bis in die Gegenwart hinein ungelöst geblieben war. John spürte, dass eine eigenwillige Laune des Schicksals ihn dazu ausersehen hatte, dieses Geheimnis zu lüften.
Neya, die neben ihm ging, holte ihn von seinem kurzfristigen Höhenflug wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. »Ungemütlich ist es hier«, wisperte sie. »Ungemütlich und unheimlich. Man kann kaum etwas sehen, hat aber selbst das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Geht es Euch ebenso?«
John nickte.
»Dieser Wald steckt voller Gefahren«, fuhr Neya fort. »Kennt Ihr Pachuro?«
»Wer ist das?«
»Einer der Führer von Don Pizarro. Er kennt den Dschungel, weil er als Jívaro geboren wurde. Man tötete seine Eltern, als sie gegen die Stammesgesetze verstießen, er selbst wurde im Wald ausgesetzt und dem Schicksal überlassen. Damals war er noch ein halbes Kind. Irgendwie schaffte er es aber, sich bis zu den Bergen durchzuschlagen. Dort wurde er von einem Hirten gefunden, der ihn bei sich aufnahm, bevor er später nach Quito ging.«
»Und weil er als Kind bei den Jívaro gelebt hat, kennt er sich hier also aus.«
Ein Rascheln im Laub, nur wenige Meter entfernt, erschreckte Neya. Sie fuhr herum, entspannte sich aber wieder, als sie sah, wie sich hinter dem vagen Umriss eines mannshohen Gebüschs ein Träger aus dem Nebel schälte, wohl weil er sich dort erleichtert hatte.
»Pachuro erzählt oft Geschichten, wenn wir abends am Feuer sitzen«, sagte
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