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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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gern das Lager mit Leon Pequene teilte, dem ›schönen Leon‹.
    Delgado schob die Zweige des Gebüschs weiter auseinander und deutete auf einen mächtigen Holzquader, der etwas abseits des Feuers auf dem Boden stand. Er musste aus dem Stamm eines Urwaldriesen aus einem einzigen Stück gefertigt worden sein und wirkte beinahe wie ein Altar. Bei näherer Betrachtung fiel John auf, dass der Holzblock ausgehöhlt war. Und in seinem Inneren befand sich etwas, das die Eingeborenen geradezu magisch anzog, denn immer wieder verließen einige von ihnen die Gruppe, um sich tanzend und stampfend dem Holzquader zu nähern. Dort angekommen, schöpften sie mit der hohlen Hand eine schwarze Flüssigkeit heraus, die sie gierig schlürften. Die ölige Brühe schien ihnen neue Kraft zu verleihen, sie zu beleben, zu regenerieren. Allerdings machte sie sie offenbar auch benommen: Je mehr die Indianer davon tranken, desto unsicherer hielten sie sich auf den Beinen, was besonders deutlich wurde, nachdem sie sich wieder in die Gruppe eingegliedert hatten. Der Tanz ums Feuer geriet im wahrsten Sinn des Wortes zum Freudentaumel.
    Ayahuasca, dachte John. Das Gebräu war bis zum heutigen Tag in ganz Amazonien verbreitet und auch unter den Namen Caapi, Caji, Yagé, Natema oder Jurema bekannt. Die Indianer gewannen es, indem sie eine bestimmte Lianenart – Banisteriopsis caapi – in Stücke schnitten, sie auskochten und anschließend mit Chacruna-Blättern vermischten. Im vergangenen Jahr hatte John ein Projekt von PharmaCorp begleitet, einem Unternehmen der McNeill Group, bei dem es um die pharmazeutischen Verwertungsmöglichkeiten tropischer Pflanzen ging. Auch Banisteriopsis caapi, seit langem bekannt für ihre heilende Wirkung auf Parkinsonkranke, wurde im Rahmen des Projekts näher untersucht. Seitdem war John Ayahuasca ein geläufiger Begriff. Er hatte das schwarze, zähflüssige Gebräu sogar schon einmal selbst probiert. Es schmeckte ekelhaft, wirkte aber umso verblüffender. Schein und Wirklichkeit verschmolzen, und man geriet in einen tranceähnlichen Zustand, der einem das Gefühl gab, in eine höhere Bewusstseinsebene aufzusteigen. Die Eingeborenen glaubten, ihre Seele könne sich unter dem Einfluss von Ayahuasca vom Körper lösen und die Gestalt eines Tieres annehmen, vorzugsweise eines Jaguars.
    »Ihr habt recht«, murmelte John zu Delgado. »Die Brühe scheint wie Alkohol zu wirken. Ein Glück für uns. In diesem Zustand dürfte das Dorf für uns kaum eine Gefahr darstellen.«
    Dennoch wollte keiner ein unnötiges Risiko eingehen, daher beschlossen John und die beiden anderen, das Indio-Dorf zu umrunden, um sich einen umfassenden Überblick über die Situation zu verschaffen. Eine halbe Stunde lang schlichen sie in einem weiten Bogen durch den Dschungel, aber der erste Eindruck bestätigte sich – hier hatten sie nichts zu befürchten.
    Als sie zum Tross zurückkehrten, war es stockdunkel. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, hatten die Spanier es nicht gewagt, ein Feuer zu entzünden. Nur der Mond und ein Meer voller Sterne erhellten die Nacht, gespiegelt vom leise dahinplätschernden Fluss.
    »Wie viele Wilde leben im Dorf?«, fragte Pizarro.
    »Etwa zweihundert, Herr«, antwortete Delgado. »Dazu noch ein paar Dutzend Kinder.«
    »Dann sollten wir keine Schwierigkeiten haben. Was meint Ihr, Cousin?«
    Orellana zuckte leichthin mit den Schultern. »Ich sehe keinen Grund, weshalb wir das Dorf nicht in Besitz nehmen sollten. Die Wilden sind uns zahlenmäßig unterlegen, haben primitivere Waffen und sind vom Alkohol benebelt. Viel günstiger könnten unsere Chancen wohl kaum stehen. Außerdem ist die Zeit mehr als reif für eine erste Eroberung. Nach monatelangem, ergebnislosem Marsch durch die Berge und den Wald benötigen die Männer endlich einen Erfolg.«
    »Dann ist es beschlossen!«, sagte Pizarro. »Hauptmann La Roqua, lasst alle Vorbereitungen treffen! Die Reiter und die Fußsoldaten sollen sich bereit machen. Der Rest des Zuges bleibt hier. Er soll nachrücken, wenn wir das Dorf unter Kontrolle haben.«
    Es war ein einfacher Plan. Die Fußsoldaten sollten den direkten Weg einschlagen und das Dorf von Westen her angreifen. Die Reiter hatten den Auftrag, das Gebiet weitläufig zu umrunden und sich von Süden und Osten zu nähern. Im Norden befand sich der Fluss. Der Überfall sollte so rasch vonstatten gehen, dass niemand aus der Siedlung fliehen konnte.
    Johns Nervosität wuchs, während er sich durch die Dunkelheit

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