Incognita
dem er einen abgewetzten Federkiel und ein Tintenfass hervorholte. Dann legte er sich das Buch auf die Oberschenkel und begann darin zu blättern.
Ganz offenkundig tat er sich schwer mit dem Lesen. Er beugte sich dicht über die Seiten und erweckte den Eindruck, als könne er seine eigene Schrift nicht mehr entziffern. Das Schreiben fiel ihm noch schwerer. Er traf mit dem Federkiel kaum das Tintenfass, und als er es endlich geschafft hatte, krakelte er die Buchstaben langsam und angestrengt wie ein Erstklässler aufs Papier.
John legte die Suppenschale beiseite und ging zu ihm hinüber. »Kann ich Euch behilflich sein, Pater?«, fragte er.
Der Geistliche blickte zu ihm auf und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Die Wunde an seiner linken Schläfe hatte sich verschlimmert. Dort, wo der Bolzen ihn getroffen hatte, überzog eine schwarze, eiternde Blutkruste die Haut. Sein Auge war noch immer stark geschwollen und gerötet. Das Lid öffnete sich zu einem schmalen Schlitz, aber dort, wo eigentlich die Pupille hätte sein sollen, war nur noch Weißes zu sehen.
»Ich danke Euch für Euer Angebot«, sagte Carvajal. »In der Tat könnte ich ein wenig Hilfe gut brauchen. Schon seit Jahren ist mein rechtes Auge nur noch für die Ferne geeignet. Auf kurze Distanz ist es kaum noch zu gebrauchen. Und seit mein linkes nun blind ist, habe ich meine Probleme mit dem Lesen und Schreiben.«
»Dann lasst mich das für Euch tun«, sagte John.
Wieder lächelte der Mönch ihn an. Diesmal wirkte es ein wenig erstaunt. »Seid Ihr denn wirklich mit dem Alphabet vertraut, mein Sohn?«
»Gewiss nicht so gut wie Ihr, Pater. Aber wenn Euch meine bescheidenen Fähigkeiten genügen, will ich Euch gerne damit dienen.«
Carvajal nickte. »Ich sehe keinen Grund, weshalb wir es nicht versuchen sollten. Besorgt Euch eine Sitzgelegenheit und lasst uns beginnen.«
John holte sich eine Pferdedecke und setzte sich darauf. Als Carvajal ihm das Tagebuch überreichte, nahm er es beinahe ehrfürchtig entgegen. Für die Anfertigung seiner Doktorarbeit hatte er eine Kopie dieses Werkes benutzt, jetzt hielt er zum ersten Mal das Original in den Händen.
»Lest mir die letzten beiden Seiten vor, mein Sohn«, forderte ihn der Mönch auf.
John tat es, und es klappte mühelos. Er hatte das Schriftbild des Mönchs ganz anders in Erinnerung, viel kantiger und teils mit so dicken Strichen gezogen, dass man die Buchstaben kaum erkennen konnte. Jetzt stellte er jedoch fest, dass zumindest dieser Teil des Tagebuchs sehr leserlich geschrieben war.
Der Dominikaner hörte mit geschlossenen Augen zu. Während die anderen Konquistadoren sich im Hintergrund beim Glücksspiel ablenkten, ließ John noch einmal Revue passieren, wie der Stoßtrupp sich vom Haupttross getrennt hatte, wie die Stimmung in der Gruppe sich mit jedem Tag weiter verschlechtert hatte und wie Pachuro schließlich zu Tode gepeitscht worden war. Der letzte Eintrag handelte vom Fund des Zimtbaums und den daran geknüpften großen Hoffnungen.
»Doch die Hoffnungen zerschlugen sich rasch«, begann Carvajal mit noch immer geschlossenen Augen zu diktieren.
John griff eilig nach dem Federkiel, tunkte ihn ins Tintenfass und begann zu schreiben. Leise kratzte die Spitze auf dem rauen Papier.
»Trotz intensiver Suche fanden wir keinen einzigen weiteren echten Zimtbaum, sondern nur falschen Zimt. Don Gonzalos Wut darüber war so groß, dass er alle Indios dem Tod überantwortete.« Die anschließende Schilderung über die Ermordung der Indios versetzte John einen Stich, obwohl Carvajal auf grausame Details verzichtete. Während er unentwegt weiter schrieb, um den Ausführungen des Mönchs zu folgen, verschwammen die Seiten vor ihm, weil es ihm die Tränen in die Augen trieb.
Das Diktat dauerte nicht lange. Der geschwächte Dominikaner wurde bald müde, sackte in sich zusammen und schlief ein. Selbst als John ihm von hinten unter die Arme griff, um ihn auf eine Decke zu legen, wachte er nicht auf.
Eine Weile saß John nur da und beobachtete den leise schnarchenden Geistlichen. Wie viel Ruhe und Nächstenliebe ging von diesem Mann aus! Er hätte allen Grund gehabt, John zu hassen, aber er tat es nicht.
John legte den Federkiel beiseite und begann, in dem Tagebuch zu blättern. Interessanterweise beschrieb der Dominikaner Seite für Seite den exakten Verlauf der bisherigen Reise: den Abmarsch aus Quito, die Überquerung der Anden, die Begegnung mit den Schrumpfköpfen, den Tod von Hernán Gutiérrez
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