Incognita
Schritt für Schritt an das Dorf heranpirschte. Er konnte seine Kameraden, mit denen er eine lose Kette bildete, kaum sehen. Nur das Rascheln von Laub, das leise Knacken von Zweigen und gelegentliches Tuscheln verrieten ihm, dass die anderen noch in seiner Nähe waren.
In einiger Entfernung schimmerte bereits das orangerote Licht des Lagerfeuers durchs Gebüsch. Der dumpfe Trommelschlag trug die leiernden Gesänge der Eingeborenen weit in den Wald hinein. Irgendwo stieß ein Affe einen gedehnten Schrei in die Nacht hinaus. Johns Bedenken wuchsen mit jedem Schritt. Wie würde die Eroberung der Siedlung verlaufen? Wie viel Widerstand würden die Indios leisten, wie viele Tote und Verletzte würde es geben?
Werde ich selbst diese Nacht überleben?
Er erreichte den Rand der Lichtung. Jetzt konnte er die Silhouetten seiner Kameraden besser ausmachen. Sie standen – wie er selbst – hinter den letzten schützenden Gebüschen, die das Dorf in einem weitläufigen Bogen umgaben. Der flackernde Schein des Feuers drang an zahllosen Stellen durchs Blätterwerk und warf ein unruhiges Mosaik aus Licht und Schatten auf die spanischen Soldaten. Krieger der Nacht, die auf ihren Einsatz warteten.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin, nahmen die Soldaten plötzlich ihre Waffen zur Hand. Manche zogen leise die Schwerter, andere – darunter auch John – spannten ihre Armbrüste und legten Bolzen ein. Trotz aller Vorsicht wirkten die Geräusche unglaublich laut, sodass John vor Spannung den Atem anhielt. Er rechnete jeden Moment damit, dass die Eingeborenen die Gefahr erkennen und zum Gegenangriff ansetzen würden, doch im Dorf schien niemand Verdacht zu schöpfen. Durchs Gebüsch beobachtete John das Treiben vor der Maloca . Das Feuer war jetzt deutlich größer als zuvor. Glühende Funken stoben weit hinauf in den Nachthimmel. Das Prasseln der Flammen war auf diese kurze Distanz so laut, dass es den Gesang der Indios beinahe vollkommen verschluckte. Umgekehrt ließ es offenbar kaum ein Geräusch zu den Tänzern vordringen. Es schottete sie – zusätzlich zu ihrem Rauschzustand – ab, hüllte sie ein, ließ sie vergessen, was außerhalb des Dorfes geschah. Woher sollten sie auch wissen, dass sie umzingelt waren?
Dann ging alles ganz schnell. John sah, wie die berittenen Soldaten von Osten und Süden her ins Dorf einfielen. Die Pferde preschten überall gleichzeitig durchs Blätterwerk. Ihre Hufe wirbelten Lehm auf und ließen den Boden erzittern. Irgendjemand brüllte Befehle.
Jetzt erwachten die Indios aus ihrer Trance. Im ersten Moment wirkten sie irritiert und wie gelähmt, dann schrien sie plötzlich wild durcheinander. Die Frauen packten ihre Kinder, um sie in die nächstgelegenen Hütten zu zerren. Die Männer griffen zu den Waffen, die in einer Art ritueller Anordnung um das Feuer herum lagen – Speere, Lanzen, Keulen, Blasrohre sowie Pfeil und Bogen. Doch angesichts der Reiter, die mit hoch erhobenen Schwertern auf sie zugaloppiert kamen, verließ sie rasch der Mut. Sie suchten ihr Heil in der Flucht – womit sie geradewegs auf die spanischen Fußsoldaten zugerannt kamen.
»Vorwärts!«, brüllte ein Kommandant, und die Infanteristen traten wie eine geschlossene Wand aus dem Wald. John hielt sich ebenfalls in Reih und Glied. Mit angelegter Armbrust stieß er ins Freie, bereit, den Abzug durchzudrücken, wenn es denn nötig wäre.
Abermals dauerte es einen Moment, bis die Indios die veränderte Situation registrierten und begriffen, dass sie eingekesselt waren. Mitten im Lauf blieben sie stehen. Zwar lag in ihren Mienen grimmige Entschlossenheit, doch gleichzeitig schienen sie zu ahnen, dass sie ihr eigenes Schicksal besiegeln würden, wenn sie von ihren Waffen Gebrauch machten.
Hinter ihnen hielten die spanischen Reiter ihre Pferde an, um die Eingeborenen nicht unnötig in die Enge zu treiben und sie dadurch zum Angriff zu provozieren. John war darüber ehrlich erstaunt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Pizarro eine unblutige Auseinandersetzung anstrebte, aber vielleicht hatte die entbehrungsreiche Reise seine Kampfeslust gedämpft.
Abgesehen vom wilden Tanz des Feuers schien die Szene jetzt wie eingefroren. Niemand wagte, sich zu bewegen, weder die Indios noch die Spanier. John spürte, wie ihm das Adrenalin durch die Adern jagte. Er hatte einen kleinen, untersetzten Dorfbewohner im Visier, der wiederum mit dem Blasrohr auf ihn zielte. Es war wie bei einem Duell. Wer zuerst schoss, würde den anderen
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