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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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üblichen faden Eintopf zufriedengeben.
    Dennoch war die Laune deutlich besser als an den Tagen zuvor, vor allem bei den Spaniern. Der Fluss bedeutete neue Hoffnung. Vielleicht mündete er ja in den Parime-See und führte sie somit nach Eldorado. Oder er floss ins Meer und wies ihnen damit einen Ausweg aus diesem Irrsinn namens Dschungel. Auf jeden Fall gab es am nächsten Morgen kaum einen Soldaten, der darüber maulte, dass das Lager schon wieder abgebaut und die Reise fortgesetzt wurde. Im Gegenteil – den meisten konnte es gar nicht schnell genug gehen.
    Am Abend des darauffolgenden Tages stießen sie zum ersten Mal, seit sie den Urwald betreten hatten, auf Eingeborene. Bislang hatten die Wilden nur eine vage Bedrohung dargestellt – durch die Schauergeschichten, die man sich über sie erzählte, und durch die Schrumpfköpfe. Jetzt war die Gefahr erstmals zum Greifen nah.
    Drei Soldaten wurden vorausgeschickt, um sich einen Überblick über den Feind zu verschaffen. Da der Spähtrupp von Jorge La Roqua ausgesucht wurde, war es kein Wunder, dass auch John zu den ›Freiwilligen‹ zählte.
    Gemeinsam mit den beiden anderen schlich er sich in Richtung der Siedlung. Der spärliche Uferbewuchs ließ sie rasch vorankommen, ohne verdächtige Geräusche zu verursachen. Gleichzeitig bot ihnen die anbrechende Dämmerung genügend Sichtschutz, um von den Indianern nicht bemerkt zu werden.
    Sie erreichten den Dorfrand und versteckten sich hinter einem ausladenden Gebüsch, von wo aus sie das Geschehen gut beobachten konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Im Dorf wurde ein ausgelassenes Fest gefeiert. Offenbar handelte es sich um eine wichtige rituelle Zeremonie, denn die Eingeborenen hatten sich ordentlich herausgeputzt. Sie trugen Röcke aus Palmblättern, Diademe aus leuchtenden Federn, Ohrstäbchen aus Tukanschnäbeln, Halsbänder aus Raubtierzähnen, Lippenringe und hölzernen Brustschmuck, außerdem Bänder aus geflochtenem Haar, die die Muskeln an Armen und Beinen betonten. Die meisten von ihnen tanzten um ein großes Feuer, das in der Mitte der Siedlung vor dem Eingang zu einer großen Maloca  – der traditionellen Rundhütte der Waldindianer – brannte. Dazu sangen sie mit kehligen Stimmen zu archaischen Klängen, begleitet von dumpfen Trommelrhythmen. Pam-pam … pam-pam . Es hörte sich an wie der Herzschlag des Dschungels.
    Nach ein paar Minuten geschah etwas Seltsames. Einer der Eingeborenen tänzelte zu einer grob gezimmerten Holzkiste, griff blitzschnell mit einer Hand hinein und hielt plötzlich eine Schlange von beachtlicher Länge über den Kopf wie eine Trophäe. Die anderen Indianer jubelten ihm zu wie einem Helden. In dem erfolglosen Versuch, dem Griff des Mannes zu entkommen, wand die Schlange sich von dessen Handgelenk bis hinab zur Schulter und weiter um seinen Brustkorb. Da der Indianer das Reptil genau hinter den Kiefern gepackt hatte, konnte es ihn nicht beißen. Doch das weit aufgerissene Maul mit den beiden langen, sichelförmigen Giftzähnen gab einen Eindruck davon, wie gefährlich das Tier unter anderen Umständen sein konnte.
    Der Eingeborene kehrte mit rhythmischem Fußstampfen zum Feuer zurück und reihte sich in den Kreis der anderen Tänzer ein, die ihm noch immer frenetisch zujubelten. Er schien es kaum zu registrieren. Die Schlange noch immer über dem Kopf tragend, drehte er einige Runden um die prasselnden Flammen.
    Plötzlich verstummten die Trommeln, und beinahe im selben Augenblick hielten die Tänzer inne. Von einer Sekunde auf die andere herrschte Stille – erwartungsvoll, beinahe unheimlich. Dann löste sich der Schlangen-Mann aus der erstarrten Menge, zückte ein primitives Messer aus seinem Lendenschurz und schnitt dem Reptil mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung den Kopf ab, während er gleichzeitig einen gellenden Schrei in den Nachthimmel schickte. Den Rest des sich noch motorisch windenden Tierkörpers warf er in die Flammen. Jetzt stimmten auch die anderen Indianer in das Freudengeheul ein.
    Angesichts des blutigen Opferrituals bekam John eine Gänsehaut. »Sie sind in Trance«, murmelte er seinen Begleitern zu.
    »Oder besoffen wie die Kelten!«, meinte Domingo Delgado, der neben ihm kniete und durchs Gebüsch spähte. Delgado war etwa dreißig Jahre alt und wirkte mit seinem schwarzen Lockenschopf, dem glatt rasierten Gesicht und den vollen, geschwungenen Lippen ein wenig weibisch. Unter den Konquistadoren war es ein offenes Geheimnis, dass er des Nachts

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