Incognita
durch den Angriff eines Jaguars … Das und alles andere stimmte haargenau mit dem überein, was John während der Expedition erlebt hatte. Nur hatte kaum etwas davon in den Aufzeichnungen gestanden, die er für die Erstellung seiner Promotion verwendet hatte.
Je mehr er las, desto stärker geriet John ins Grübeln. Von welcher Seite er die Sache auch betrachtete, er kam stets zu demselben Schluss: Irgendjemand – Carvajal selbst oder ein Dritter – musste der Nachwelt ein anderes Reisetagebuch als dieses hier hinterlassen haben. Eine verfälschte Abschrift. Aber aus welchem Grund? Was war mit dem Originaltagebuch geschehen? Und wer steckte hinter dem Täuschungsmanöver?
Fragen, auf die er keine Antworten hatte.
Kapitel 14
Ein paar Tage später stießen sie wieder auf das Basislager. John war froh, endlich wieder andere Gesichter zu sehen. Er hoffte, dadurch endlich die grausamen Bilder der sterbenden Indios aus seinem Kopf verbannen zu können, die ihn wie böse Geister verfolgten. Doch er stellte rasch fest, dass sich die Situation nicht besserte. Die Nachricht von Pizarros Bluttat stürzte die zurückgebliebenen Indios in Trauer und Verzweiflung. Viele begannen, spontan zu weinen, oder verfielen in mitleidiges Gezeter. Einige stimmten gebetsmühlenartige Litaneien an, die derart ans Herz gingen, dass auch John wieder die Tränen kamen. Die Stimmung von Francisco de Orellana und den anderen Spaniern im Lager erreichte ebenfalls einen Tiefpunkt – nicht wegen der toten Indios, sondern weil die Vorhut weder Gold noch Zimt gefunden hatte. Es herrschte eine Atmosphäre wie auf einem Friedhof.
Wenige Stunden später wurde das Basislager abgebaut und der Marsch fortgesetzt. Im großen Tross schlugen sie einen anderen Weg ein als jenen, den die Vorhut gewählt hatte, wohl weil Pizarro hoffte, in dieser Richtung mehr Glück zu haben. Aber John gewann den Eindruck, dass inzwischen kaum mehr jemand an den Erfolg dieser Expedition glaubte.
Am Nachmittag des übernächsten Tages trafen sie auf einen Fluss, an dessen spärlich bewachsenem Ufer sie ihr Lager aufschlugen. Es war ein wahrhaft idyllischer Ort: Wasserschildkröten sonnten sich auf dem Treibholz, während sie von einem Ballett aus Schmetterlingen umtanzt wurden, die aus dem Salz ihrer Augenflüssigkeit lebenswichtige Mineralien aufsogen. Am gegenüberliegenden Ufer erspähte John eine Gruppe Jaribu-Störche, die auf dürren Stelzenbeinen reglos im Wasser standen und sich die Abendsonne aufs Gefieder scheinen ließen. Ein schwarzer Scherenschnabel zog dicht über dem Fluss seine kerzengerade Bahn. Mit kräftigen Flügelschlägen glitt er dahin, den unteren Schnabelteil ins Wasser getaucht, um Beutefische aufzuspießen.
John war nicht der Einzige, der den hiesigen Artenreichtum bemerkte. Auch Gonzalo Pizarro fiel er auf, und er beschloss, den Reichtum der Natur dazu zu nutzen, die Speisekarte ein wenig zu erweitern. Kurzerhand gab er einigen Indios den Befehl, Schildkröten, Vögel und Fische fürs Abendessen zu erlegen.
John, der vom Ufer aus alles beobachtete, musste gestehen, dass er die Indios nicht beneidete. Zwar floss der Fluss harmonisch dahin, doch niemand wusste, was sich unter der spiegelnden Wasseroberfläche verbarg. Vielleicht tummelte sich ausgerechnet an diesem Gestade eine der vier Piranha-Arten, die auch Menschen anfiel. Darüber hinaus konnten Stachelrochen böse Verletzungen verursachen, die oft jahrelang schmerzten. Die Stachel der Tiere waren scharf wie Rasierklingen, zudem sorgte ein Nervengift für die nachhaltige Zerstörung des verwundeten Gewebes. Natürlich gab es noch eine ganze Reihe weiterer Tiere, die im Wasser lauern konnten: Kaimane und Fischgiganten wie der Tambaqui oder der Paraiba-Wels, dem nachgesagt wurde, dass er schon badende Kinder verschluckt habe. Und seit seinem Besuch im Manu-Nationalpark wusste John, dass Riesenotter, die bis zu 1,80 Meter Körperlänge erreichten und stets in Gruppen jagten, nicht umsonst Lobos del río – Flusswölfe – genannt wurden. Sie besaßen keine natürlichen Feinde und griffen sogar Kaimane an. Weshalb nicht auch Menschen?
Obwohl die Liste der potenziellen Gefahren endlos schien, wurde keiner der Indios verletzt. Einziger Wermutstropfen war, dass der Fang nicht so ergiebig wie erhofft ausfiel. Daher konnten sich am Abend nur Gonzalo Pizarro, Francisco de Orellana und deren engste Vertraute an frischem Fisch und Fleisch gütlich tun. Der Rest der Gruppe musste sich mit dem
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