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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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töten.
    Dann übertönte plötzlich eine schrille Stimme das Prasseln des Feuers. Ein hagerer Greis, der auf seiner Glatze einen ausladenden Kopfschmuck aus Tierfell und Federn trug, rief etwas in einer Sprache, die John nicht verstand. Für seine Ohren klang es wie ein Angriffsbefehl, und er machte sich schon bereit, seinen Schuss abzufeuern. Doch während der Alte lauthals weiterkrächzte, legte er behutsam seine Hartholzlanze auf den Boden. Eine Geste der Unterwerfung – und die anderen Indios folgten seinem Beispiel! Von John fiel eine Zentnerlast ab.
    Wenig später hatten die Spanier das ganze Dorf um das Lagerfeuer zusammengetrieben. Jorge La Roqua ließ alle Waffen einsammeln und vorsichtshalber auch die Hütten durchsuchen. Endlich gab er Entwarnung. John schaffte es, sich allmählich wieder ein wenig zu entspannen.
    Gonzalo Pizarro ließ seine Dolmetscher kommen – ein paar Indios aus Quito, die er eigens zu diesem Zweck mitgenommen hatte –, um mit den Urwaldbewohnern Kontakt aufzunehmen. Heute benötigte er ihre Dienste zum ersten Mal. Nach einigen Fehlversuchen gelang es Felipillo, einem adeligen Inka-Indianer mit gebeugtem Gang, aber hellwachen Augen, sich mit dem Alten aus dem Dorf zu verständigen. Wo Worte versagten, benutzte er ausladende Gesten.
    »Er spricht einen entfernten Arawak-Dialekt«, sagte Felipillo zu Gonzalo Pizarro. »Ich verstehe zwar nicht jedes Wort, aber er sagt wohl, dass dies der Stamm der Napo sei, benannt nach dem Fluss, an dessen Ufer sie leben. Er ist der ranghöchste Mann des Dorfes, Aparia und Payé, Häuptling und Schamane in einer Person. Er bittet Euch, das Leben der Dorfbewohner zu schonen. Im Gegenzug bietet er Euch Waffen, Schmuck und Nahrung an.«
    »Die Waffen haben wir bereits konfisziert!«, höhnte Pizarro. »An Schmuck kann ich nichts erkennen, was sich lohnen würde zu besitzen. Und nur um der Nahrung willen sind wir nicht so weit gereist.«
    Felipillo wechselte ein paar Worte mit dem Aparia. »Mehr gibt es hier nicht, behauptet er.«
    John sah Pizarro an, dass er schon wieder die Geduld verlor. Er hatte wohl gehofft, in dieser Siedlung endlich ein wenig Gold zu entdecken. Doch der Schmuck der Indios, den sie in mannigfaltiger Art an Hals, Ohren, ja sogar an Nasen und Lippen trugen, bestand ausschließlich aus Tierkrallen, Federn und Holz. Für die Spanier war das absolut wertlos.
    »Sag ihm, dass dieses Dorf und all seine Einwohner ab sofort der spanischen Krone unterstehen«, gebot Pizarro dem Dolmetscher. »Sag ihm, wer es wagt, sich aufzulehnen, wird mit dem Tode bestraft. Wer sich meinem Befehl widersetzt, ebenfalls. Im Namen Kaiser Karls V. erkläre ich dieses Land mit allem, was sich darauf befindet, zum spanischen Besitz.«
    Für Johns Ohren klang es geradezu lächerlich. Ein kümmerliches Indio-Dorf mitten im südamerikanischen Dschungel wurde kraft lapidarem Befehl dem Herrschaftsgebiet einer europäischen Großmacht zugeordnet. Wie verzweifelt musste Pizarro sein, um sich dazu hinreißen zu lassen?
    Der Dolmetscher begann zu übersetzen. Das Gesicht des Aparia verriet, dass er nicht allzu viel von dem verstand, was ihm gesagt wurde, aber er hörte Felipillos Ausführungen aufmerksam zu. Anschließend ergriff er das Wort und sprach zu seinem Volk.
    Zufrieden berichtete Felipillo an Pizarro: »Er hat den Dorfbewohnern befohlen, sich friedlich zu verhalten und Eure Anweisungen zu befolgen. Ich glaube nicht, dass diese Leute Euch Schwierigkeiten machen werden, Herr.«
    »Dann wollen wir gleich mal sehen, ob der Häuptling es auch ernst meint«, erwiderte Pizarro. »Sag ihm, dass meine Leute und ich hungrig sind. Wir wollen etwas essen. Eine warme Mahlzeit, und zwar reichlich davon. Wenn es schnell genug geht und schmeckt, werden wir heute Nacht vielleicht ein paar der Frauen verschonen.« Er verzog die Lippen zu einem zynischen Grinsen und deutete auf ein Mädchen, kaum zwanzig Jahre alt, das barbusig und beinahe nackt vor einer der Hütten stand und ängstlich wie ein Reh herüberblickte. »Die dort drüben«, sagte Pizarro und deutete in ihre Richtung, »die könnte mir schon gefallen!«
    Er bedachte die Frau mit einem lüsternen Blick und ergötzte sich daran, sie so sehr zu verängstigen, dass sie sich rasch in ihre Hütte zurückzog.
    Wieder übersetzte der Dolmetscher. Der Aparia hörte wortlos zu, wobei er dem gut einen Kopf größeren Gonzalo Pizarro starr in die Augen sah. Der flackernde Schein des Feuers verlieh seinem Blick einen beinahe

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