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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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diabolischen Glanz. John zweifelte nicht daran, dass der Alte den spanischen Führer in diesem Moment am liebsten umgebracht hätte. Aber er hielt sich zurück. Wie eine Spinne, die geduldig auf ihre Chance wartet.
    Die Spanier vertrieben die Eingeborenen aus ihren Hütten, um es sich darin bequem zu machen. Anschließend verstauten sie Waffen und Vorräte darin in der Absicht, einige Tage oder gar Wochen in der Siedlung zu verweilen und sich von den Strapazen der Reise zu erholen. Bis dann auch noch die Tiere versorgt waren und alle Indio-Träger und -Führer einen Platz zum Übernachten gefunden hatten, war das Essen fertig.
    Die Eingeborenen hatten die Feuerstelle umgestaltet. Jetzt brannte nicht mehr ein einzelnes großes Feuer in der Dorfmitte, sondern gut zwei Dutzend kleinere, und von jedem einzelnen stiegen John die köstlichsten Gerüche in die Nase. Über die knisternden Glutherde hatten die Indianer große Gitter aus grünen, noch feuchten Zweigen gelegt. Darauf grillten sie Fische und saftige Fleischstücke von Pekaris und Tapiren. Dazu reichten sie Fladen aus Maniok-Mehl sowie Bananen, Papayas und Ananas, die sie in ihren primitiv angelegten Gärten zwischen Dorfrand und Urwald züchteten. John, der seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte, lief das Wasser im Mund zusammen.
    Pizarro, Orellana, La Roqua und drei weitere spanische Kommandanten saßen in der großen Maloca  – der zentralen Rundhütte – im Kreis auf Matten. Da sie auch den Aparia sowie zwei seiner Unterhäuptlinge hierher beordert hatten, war Felipillo, der Dolmetscher, ebenfalls dabei, außerdem Gaspar de Carvajal als oberster Geistlicher des Zugs. Und da Carvajal John in sein Herz geschlossen hatte, war es sein Wunsch gewesen, ihn an seiner Seite zu haben.
    Dadurch hatte John erstmals Gelegenheit, die Dorfbewohner ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen. Er stellte fest, dass sowohl der Aparia als auch alle anderen Indianer an Brust und Armen, teils sogar im Gesicht, mit Tätowierungen übersät waren. Aus der Entfernung wirkten sie wie einfache Hautflecken, bei näherer Betrachtung entpuppten sie sich jedoch als kunstfertige Ansammlung filigraner Tier- und Naturdarstellungen, wenn auch in stark stilisierter Form. Geometrische Figuren – vor allem Rechtecke, Dreiecke und Rauten – waren ebenfalls dabei. John wusste, dass er diese Formen schon einmal irgendwo gesehen hatte, konnte sich im ersten Moment jedoch nicht daran erinnern. Dann fiel es ihm mit einem Mal wieder ein: Die Tätowierungen waren die verkleinerten Darstellungen der gigantischen Geoglyphen auf der Wüstenhochebene oberhalb des Nazca-Tals. Welchen Zweck die dortigen Stein-Scharrbilder erfüllten, war bis in die Gegenwart hinein nicht zweifelsfrei geklärt. Die gängigsten Theorien gingen davon aus, dass es sich um astronomische Symbole und Sternbilder der Nazca-Kultur handelte. Zu echter, wenn auch zweifelhafter Berühmtheit gelangte die Region jedoch durch den Schweizer Erich von Däniken, der die These vertrat, bei den Nazca-Reliefs handle es sich um ehemalige Landeplätze für außerirdische Raumschiffe.
    Doch welcher Theorie man sich auch anschloss – die Nazca-Symbole waren nicht einzigartig, wie John bisher angenommen hatte, sondern sie überzogen nun auch die Körper dieser Dorfbewohner! Woher kannten sie die Felsdarstellungen aus der Wüste in über 1.500 Kilometer Entfernung?
    Durch seine Doktorarbeit wusste John einigermaßen über die Sitten und Gebräuche der Amazonas-Völker Bescheid. Von solchen Körperbemalungen hatte er indes noch nie gehört, obwohl sie eine Sensation waren. Das Schlangenopfer-Ritual, das er wenige Stunden zuvor beobachtet hatte, war ihm ebenfalls neu.
    Als ihm die Tragweite dieser Feststellung bewusst wurde, bekam er vor Aufregung ganz feuchte Hände. Weshalb wurden diese Dinge in keiner einzigen ihm bekannten Quelle erwähnt – zumal die Eingeborenenstämme am Ufer des Napo modernen Anthropologen keineswegs unbekannt waren? Offenbar warfen nicht nur Gaspar de Carvajals Tagebuchaufzeichnungen Fragen auf, auch andere, neuzeitliche Dokumente, die John für seine Recherchen benutzt hatte, zeichneten ein falsches oder zumindest lückenhaftes Bild der Realität. Weshalb? Welches Geheimnis barg dieser Wald, dass Geschichtsschreiber und Wissenschaftler der unterschiedlichsten Epochen es vorzogen, die Wahrheit zu verschleiern, anstatt sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen?
    Oder existierte der Napo-Stamm heutzutage gar

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