Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
einzigen Wohnraum sind zwei Bambusmatten vor einem Altar für den Guru Sai Baba und einem deckenhohen, in die Wand eingelassenen Regal ausgebreitet. Ansonsten ist der Raum leer.
Anandis Großvater schüttelt mir minutenlang die Hand und verbeugt sich bis hinab auf den säuberlich gefegten Steinboden. Sein Blick ist starr nach unten gerichtet, seine Gesichtszüge
sind hart. Er kann mich nicht sehen. Die Großmutter ist eine zierliche Frau. Sie trägt eine feine Goldkette über dem olivgrünen Sari und schweigt beharrlich. An der nackten Lehmwand hängt ein verblichenes Schwarz-Weiß-Foto ihres Sohnes, um den Hals eine Blumenkette, daneben ein Kalender vom vorvergangenen Jahr mit dem Bild einer Steilküste, an der sich Serpentinen entlangschlängeln, versehen mit der Aufschrift Not just Roads. Building a Nation .
»Mein Vater ist weggelaufen, als ich sechs war«, sagt Anandi. »Ich habe ihn nie wiedergesehen.« Sie stellt Reis, Blumenkohl und frittierte Teigwaren auf einen niedrigen Tisch aus Furnierimitat. Durch das glaslose Gitterfenster weht Uringeruch. »Als Großvater blind wurde, war ich dreizehn. Da habe ich angefangen zu arbeiten.«
Ich fülle meinen kranken Magen aus reiner Höflichkeit. Bei dem Versuch, Wasser aus einem Krug zu trinken, ohne das Gefäß mit den Lippen zu berühren, bekleckere ich mein Hemd. Die Szene ist absurd und unangenehm. Es fällt mir schwer, von denen zu nehmen, deren schlecht bezahlte Arbeit in Deutschland mein Heim ausstattet.
»Mehl und Gemüse werden jeden Tag teurer«, klagt Anandis Mutter schlürfend zwischen einer Handvoll Kohl mit Reis. »Wir sind so glücklich, dass wir meine Tochter haben.«
Die Frauen verschwinden mit dem Geschirr in die Kochnische. Als sie wiederkommen, frage ich Anandi, was sie machen möchte, wenn sie älter wird, ob sie eine Familie haben will, Kinder. »Wie denn«, antwortet das Mädchen. Sie lacht rau und derb. »Wer nimmt schon eine Kastenlose, deren Familie keine Mitgift zahlt?«
In diesem Moment dreht sich mir der Magen um. Ich stürze vor die Tür und spucke in den Abwassergraben. Der Geruch von Fäkalien vermischt sich mit dem meines Mageninhalts.
Ich sinke auf die Knie. Als mein Bauch nach zehn Minuten endlich leer ist, steht die alte Hündin mit dem verwundeten Rücken neben mir und schnuppert an dem Erbrochenen. Ich lasse es geschehen. Ohne nachzudenken streichele ich ihr den faltigen Nacken. Meine Angst vor Hunden ist kuriert.
Verloren
Kurz vor der Stadt Salem tauchen die Berge auf. Dunkel, steil und undurchdringbar erheben sie sich über den National Highway. Am Abend schicken sie einen frischen Wind hinab in den Stadtteil South Junction, eine Ansammlung von neonbeleuchteten Kiosken, wohlsortierten Obstgeschäften und Truck-Stops, wo ich ein typisches Businesshotel bezogen habe: nichtssagende, leere Räume mit sauberen weißen Laken unter hohen Decken und einer viel zu kalt eingestellten Klimaanlage.
Zweieinhalb Wochen bin ich nun unterwegs, es ist Mitte Januar. Aber das Klima in der Ebene von Madurai hat sich nicht geändert: Es ist konstant heiß und schwül. Die Temperaturen sinken früh morgens kaum unter zwanzig Grad, am Nachmittag klettern sie auf über dreißig Grad.
Am nächsten Morgen will ich ins Gebirge wandern, um Kolar zu erreichen, eine Stadt, die bekannt ist für ihre verlassenen Goldminen, einstmals die zweittiefsten der Welt. Fünf Tage plane ich für den Trip ein. Frische Luft, ruhige Landstraßen und beschauliche Dörfer könnten mir gut tun.
»Warum läufst du nicht geradeaus weiter, über Bangalore?«, fragt ein Obsthändler mit weißer Kappe auf dem Hinterkopf, bei dem ich am Abend eine Tüte Äpfel für den nächsten Morgen erstehe. Er spricht Urdu, die wichtigste Sprache der indischen Muslime. Sie ist eng verwandt mit Hindi, jenem nordindischen Idiom, das ich leidlich beherrsche. Ich bin froh,
meine Fähigkeiten zu üben. Dazu hatte ich in den vergangenen Wochen wenig Gelegenheit.
»In den Bergen gibt es höchstens alle 20 Kilometer ein kleines Dorf«, sagt der Obsthändler. »Wo willst du schlafen?«
»Ich dachte draußen.«
»Das würde ich nicht tun«, sagt er. »Da ist nur Dschungel. Überall gibt’s Schlangen. Und die Dörfer sind voll mit Verrückten. «
Ich entscheide mich dennoch für die Berge. Und beschließe, von nun an öfter nach Männern mit Vollbärten und Gebetskappen Ausschau zu halten, wenn ich Informationen brauche.
Wie gewohnt schultere ich morgens um halb fünf meinen
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