Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
gleichzeitig spüren, wie allein ich bin. Ich bin ein Durchreisender, ein Rastloser. Auch drei Wochen nach meinem Aufbruch bleibe ich ein Fremder in diesem gastfreundlichen Land.
Am vierten Tag in den Bergen verlaufe ich mich. Kurz hinter der Stadt Krishnagiri soll ein Weg über eine weitere, niedrige Bergkette zu den verlassenen Goldminen von Kolar führen . Aber ich finde die auf meiner Karte verzeichnete Abzweigung nicht. Kein Schild zeigt in das indische Ex-Eldorado, immer weiter laufe ich nach Westen, bis ich endlich eine Straße hinauf ins Gebirge entdecke.
Am späten Nachmittag durchquere ich einen dichten Wald und klettere in eine sandige Dünenlandschaft hinein. In der Dämmerung passiere ich ein paar dreckig wirkende Gebäude, die unmöglich bewohnt sein können: Zwölf rosa gestrichene Zwanzig-Quadratmeter-Zementquader hocken, angeordnet wie Reihenhäuser, auf einer sumpfigen Grasfläche, die Ecken sind vom Regenwasser schwarz gefärbt. Je ein kleines hohes Fenster auf der Stirnseite wirkt wie eine Schießscharte, alle Türen darunter sind verschlossen. Hinter dem letzten Quader steht plötzlich eine Frau mit Schürze und nimmt Wäsche von einer Leine. Sie winkt mir zu. Aber ich gehe weiter. Hier will ich nicht schlafen.
Ich wandere in die Nacht hinein. Die Straße verwandelt sich in eine löchrige Sandpiste. Nur gelegentlich donnert ein Kleinbus oder ein Motorrad mit schaukelnden Scheinwerfern durch die Dunkelheit. Bald ist es zu frisch, um stehen zu bleiben. Und zu spät, um umzukehren. Ich sondiere meine Vorräte: zweieinhalb Packungen Glukosekekse, drei Zwanzig-Gramm-Riegel Milchschokolade und ein Liter Wasser, genug für eine kleine Mahlzeit. Gegen Mitternacht taucht in einer Serpentine ein Zelt mit Straßenbauern auf. Im Vorbeilaufen spähe ich hinein und sehe eine Mutter, die im Licht einer flackernden Petroleumlampe ihr Kind stillt, einen Mann, der in einem Plastikbecken Geschirr wäscht. In einem Weiler stolpere ich über einen niedrigen Stacheldrahtzaun in ein Ziegengatter; während ich mich halbwegs auf einer zerfallenden Mauer aus Feldsteinen abstütze, stieben die mähenden Schatten auseinander.
Irgendwann am frühen Morgen stehe ich auf einem Grat, der steil nach Westen abfällt. In einer Bushaltestelle schlinge ich meine letzten Lebensmittel hinunter, breite meine Alumatte aus und rolle mich in meinen Schlafsack. Ich frage mich, ob es doch ein Fehler war, Bangalore zu umgehen. Ein bisschen Komfort wäre jetzt ganz angenehm.
Kein Fahrzeug ist zu dieser Stunde noch auf dem Pass zu hören. Nur das Zirpen der Grillen, das über die Felder knattert. Und ein Rascheln im Unterholz. Durch den Türrahmen der Haltestelle beobachte ich den Schatten des nahen Knicks, der unheimlich in der leichten Brise wackelt. Im Norden sehe ich zwei Feuer auf einer fernen Bergkette brennen.
Ich stelle mir vor, wie die britischen Vermesser durch diese Landstriche zogen. Wie William Lambton genau hier gesessen hat. Noch vor der Morgendämmerung ist er den Pass hinaufgeklettert
und in sein Neun-Quadratmeter-Beobachtungszelt gekrochen. Er hat sich von einem Bediensteten Tee kochen lassen und als die Sonne aufgeht mit dem rechten Auge – denn das linke schielt, seit er in Kanada wider besseren Wissens ohne Lichtschutz eine Sonnenfinsternis beobachtete – seinen Theodoliten aufgebaut. Mit dem Fernrohr sucht er jetzt jene Bergkette ab, wo ich von den beiden Feuern nur noch Rauchfahnen sehe. Doch in Lambtons Okular erscheint nichts als unberührte Wildnis.
In den bewaldeten Mittelgebirgen des Subkontinents kommt der Great Trigonometrical Survey mit der Triangulation nur schwer voran. Um neue Vermessungspunkte zu errichten, müssen sich die Messtrupps in dichtes Unterholz und durch Wälder voller Boa Constrictors und Tigern schlagen, ständig bedroht von Dschungelfieber und Typhus, wie es in den Aufzeichnungen heißt. Wenn die Vermesser eine geeignete Position gefunden haben, schlagen sie eine Lichtung in den Dschungel. Bis zu siebzig Meter hohe Teak- und Ebenholzbäume in einem Umkreis von zweieinhalb Quadratkilometern müssen sie fällen. Die Erkundung und Errichtung der Messstationen war in diesen Gebieten ein schwer kalkulierbarer Kraftakt. Der tiefe Dschungel verschluckte die Teams des Survey, um sie nach Belieben wieder auszuspucken. Manchmal erst nach Wochen. Und nicht selten krank oder tot.
So mag Lambton Morgen für Morgen auf diesen Pass geklettert sein, um von dem Zeltobservatorium aus die
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