Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
der Hand, barfuß auf der Reise Richtung Westen, zum Tempel von Palani. Am Rand der Kleinstadt Vadipatti trocknen sie ihre roten Kleider nach einem rituellen Bad im Fluss auf den Metallstreben einer im Bau befindlichen Autobahnüberführung. »Der neue Highway ist gut für alle«, befindet ein Jüngling, der sich die langen, nassen Haare kämmt und die Stöpsel seines Handys in die Ohren drückt. »Wenn ein Haus abgerissen wird, bekommt der Besitzer eine Entschädigung. Und kauft sich ein neues in der Stadt.«
Ansonsten sind die 140 Kilometer zwischen Madurai und der Stadt Karur am Kaveri-Fluss eintönig. Bagger und Bulldozer planieren die Straßenränder. Bautrupps in Warnwesten legen Brückenfundamente über halb trockene Flussläufe. Die Dörfer sind seziert. Zerschnittene Häuser ragen über die Piste und geben ihr Innenleben preis. In zweigeteilten Wohnungen stehen Betten, Schränke, Tische. Es gibt keine Marktplätze und nur noch wenige Garküchen an der Autobahn. Ein dichter Nebel verpasst der Landschaft eine gespenstische Stimmung. Etwa alle 35 Kilometer erhebt sich eine Kleinstadt aus der Ebene, in der ich eine mehr oder minder erträgliche Bleibe finde.
An einem frühen Samstagnachmittag stehe ich in einem Vorort von Karur an einem Tor. »Psycho Trust« ist auf ein Schild gepinselt, das darüber hängt. Aus dem Wachhäuschen im Eingang beobachtet mich ein einäugiger Halbwüchsiger. Ich lächele ihn an. Er huscht in das undurchdringliche grüne Dickicht, das das Grundstück ausfüllt, und erscheint kurz darauf, begleitet von einem kräftigen Mann mit Betonscheitel wieder am Eingang.
»Hi«, sagt er, als der Einäugige das quietschende Gatter öffnet. »Mein Name ist Christraj.« Wir sind verabredet. Bei Psycho Trust will ich etwas über die Schattenseiten des indischen Wirtschaftsbooms erfahren, über die Leidtragenden der Globalisierung. Und das sind vor allem die sogenannten Unberührbaren, die Dalits. Christraj führt mich auf einem Weg aus roten Steinplatten vorbei an Beeten mit Margeriten, Kokospalmen und Guavenbäumen in ein ausladendes einstöckiges Gebäude, vor dem eine Voliere mit Kanarienvögeln und Papageien steht. Ein kleiner Junge drückt mir zur Begrüßung eine Blume in die Hand. In einer Halle hocken zwei Dutzend Frauen mit Kindern auf dem Schoß und klirrenden Armreifen um die Handgelenke. Sie singen ein Lied und füttern ihre Kleinen mit Keksen. Ein Mädchen bearbeitet mit einem Plastikschlägel eine flache Trommel. »Diese Frauen treffen sich einmal in der Woche, um ihre Probleme zu besprechen«, sagt Christraj.
Er weist mir einen Sitzplatz zu, ein Kissen auf einer kleinen Treppe. Ich erzähle den Frauen, dass ich zu Fuß durch das Land wandere. Dass ich Indien so erleben will, wie es ist, ohne die finsteren Seiten auszulassen. Christraj übersetzt. Das Publikum applaudiert.
»Warum sind eure Männer nicht hier?«, frage ich. Die Damen brechen in lautes Gelächter aus. Eine stämmige Alte mit einem hervorstehenden Schneidezahn und grauem
Lockenkopf erhebt die Stimme. »Unsere Männer sind faul. Ich bin geschieden. Ich lebe mit meinen beiden Kindern in einem Dorf acht Kilometer von hier. Mein Mann wohnt an einem anderen Ort. Er kümmert sich um nichts. Er säuft, er hurt herum. Wir machen die Arbeit.«
»Die Ausbeutung hat in Karur eine lange Tradition«, sagt Christraj, als wir im Nebenraum unter einem gewaltigen Ventilator beim Mittagessen sitzen. Die Tür zum Büro steht auf; ich sehe einen Laptop, eine Uhr aus Keramik, die einen Korb darstellt, aus dem Mickey Maus und Bugs Bunny gucken, ein Poster von Terre des hommes. »Früher haben die Brahmanen die Dalits zu Sklavenarbeit gezwungen, als Latrinenputzer, als Feldarbeiter. Heute knechten die Hindus aus den unteren Kasten sie in ihren Kleinunternehmen.« Christrajs Frau reicht Gemüse und Schweinefleisch und Fladenbrot aus einem großen runden Thermosgefäß. »Die Kultur der Unterdrückung ist zu alt. Wer am Ende der Leiter lebt, ist es nicht gewohnt, sich zu wehren, wenn er vergewaltigt wird. Wir bauen die Dalits auf, seelisch und materiell.« Christraj schlingt das Essen hinunter, während er redet, dazu nimmt er Riesenschlucke Wasser aus einem blauen Plastikbecher, den er ständig wieder auffüllt. »Wir organisieren Selbsthilfegruppen, wir zeigen ihnen, wie man ein Geschäft aufzieht, damit sie wenigstens Klobürsten oder Schnürsenkel verkaufen können. Damit sie Kleinkredite bekommen. Aber das größte Problem ist immer
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