Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Zehn-Kilo-Rucksack und richte, eine kleine LED-Lampe in der Linken, und immer brav auf der rechten Straßenseite gehend, wie der Polizist Balakrishnan mir in Tirunelveli geraten hat, meine Schritte nach Nordosten.
Kurz nach Sonnenaufgang erreiche ich den Abzweig von der Hauptstraße in Richtung Norden. Rund um den Ort Ayodhyapattinam liegt ein kleines Zentrum der Geflügelindustrie. Der indische Vegetarismus ist zu erheblichen Teilen eine Legende. Es gibt in diesem Land viel mehr Kasten, Ethnien und Religionsgemeinschaften, die Hammel schlachten und Hühner kochen, als die im Westen verbreiteten Indienklischees uns vermitteln wollen. Und wie überall auf der Welt ist Fleisch heute auch in Indien ein Produkt mechanisierter Massentierhaltung.
So erstrecken sich auf nur einem Kilometer meines Weges drei streng riechende Hühnerfarmen in das diesige Buschland hinein. In fußballfeldgroßen Backsteingebäuden gackert weißes Federvieh um knallrote Plastikfutterbehälter. Und an der Hauptstraße von Ayodhyapattinam wird allenthalben das frische Produkt der Mastfarmen angeboten: Hühnerhälften sind
auf Holzklötzen ausgestreckt wie gekreuzigte Jesuse, sie baumeln an Eisenhaken über Marktständen. Hühnerbeine türmen sich, zu armdicken Bündeln gewickelt, auf Verkaufstresen, drapiert rund um einzelne, von Fliegenschwärmen umkreiste Hammelköpfe. Ein grauhaariger Alter sitzt in einem zwei Kubikmeter großen, halb vergitterten Holzschuppen, durch den ein Dutzend Hennen flattert, reibt sich die Augen und schlürft einen Kaffee. »Suguna Poultry – Younger, Tender, Better« steht in leuchtendem gelb-rotem Schriftzug auf Schildern über den Geschäften, daneben die Namen der Besitzer. Haufen von Federn färben die Gossen und den Straßenrand weiß, eine Spur der industrialisierten Landwirtschaft. Sie begleitet mich bis hinauf in die Berge.
Der Weg steigt langsam an. Zu dem Gemisch aus Reisfeldern und struppigen Dornbuschsteppen gesellt sich jetzt ein neues landschaftliches Element: kleine Hügelketten fliehen dem Horizont entgegen. Und überall liegen große, nackte Steine herum, bequeme Sitzplätze zum Ausruhen. Ich hocke auf einem Findling an der abschüssigen, breiten Allee, esse Barfi, rautenförmiges Konfekt, und blicke in die dunstverhangene tamilische Tiefebene zurück. Die Bauern treiben Ochsenkarren bergan; schlaksige, schnauzbärtige Burschen in T-Shirts und weißen Turnschuhen, alte Männer mit hochgekrempelten, zerschlissenen, aber sauberen Hemden über karierten, halb langen Röcken. Ich werfe ihnen einen Gruß zu. Sie lächeln cool zurück.
Die Straße folgt einem Flusslauf in einen schmalen Canyon, aus dem ein Wald von gigantischen Bambussträuchern sprießt. Die Büsche rascheln im Wind, manchmal knacken sie plötzlich markerschütternd. In den Serpentinen hocken Clans keifender Rhesusaffen auf den Begrenzungssteinen, ich passiere sie wie
ein Spießrutenläufer, der einzige Fußgänger zwischen gelegentlich durch die Kurven rasenden Kleinbussen, aus denen kreischende Stadtkinder auf dem Weg in die nahe Hillstation Yercaud komplette Kekspackungen werfen; die Affen reißen sie geübt mit einem Biss auf. Auf der Passhöhe steht ein kleiner Tempel, daneben ein strohgedeckter Lehmbau. » Cold drinks !«, ruft ein Mann aus dem Laden, der von einem Teppich aus Chipstüten umgeben ist.
Jenseits der Schlucht öffnet sich eine komplett andere Landschaft: Sanfte Weideflächen bilden einen Flickenteppich grüner Plateaus, der sich im kräftigen tropischen Licht bis in eine ferne, von spitzen Gipfeln besetzte Bergkette erstreckt. Das erste Mal auf meiner Reise marschieren meine wunden Füße über weiche Rasenabschnitte neben dem Asphalt. Kuhglocken läuten über grüne Wiesen. Ein bärtiger Hirte liegt mit überschlagenen Beinen im kniehohen Gras vor einer arabisch aussehenden, strahlend weiß gestrichenen Villa, in der kein Mensch zu sehen ist. Kinderscharen in blauen Schuluniformen strömen Hand in Hand einen Hügel hinab. Klare Bäche sprudeln durch Dörfer, in denen Töpfer glänzend nasse Krüge vor kleinen, bunten Häusern stapeln. Über die öffentlichen Münztelefone sind schützende Regenschirme montiert. Und auf jedem Dorfplatz steht eine Statue von Mahatma Gandhi auf dem legendären Salzmarsch, mit dem er die Unabhängigkeit seines Landes von den Briten erzwang: ein gebückter, abgemagerter ostwestlicher Intellektueller mit übergroßer Nickelbrille und Wanderstab; den Nadelzwirn hat er gegen ein
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