Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
handgesponnenes Gewand getauscht.
Wandern hat in diesem Land Tradition. Und diese Gegend ist dafür wie gemacht, denke ich, als ich auf einer schnurgeraden Landstraße in die Servayan-Berge hineinmarschiere. Meine Gedanken verschmelzen im Takt der Schritte mit der Straße,
mit den Geräuschen und dem Horizont. Dann reißen sie komplett ab. Ich nehme nur noch die Gegenwart wahr. Laufen ist Meditation, vielleicht ist es deswegen eine indische Tugend.
Ich bin so blind vor Begeisterung, dass ich mich prompt verkalkuliere. In dem Ort Pallapati finde ich keine Bleibe für die Nacht. Es gibt kein Hotel, nur eine Durchgangsstraße, an der sich Menschentrauben vor Lebensmittelgeschäften und Kaffeeständen versammeln. Und Straßensperren, vor denen ernst blickende Soldaten mit überschlagenen Beinen an weiß bemalten Alleebäumen lehnen. »Versuchen Sie es in Krishnagiri, mit dem Auto sind sie in zwei Stunden da«, sagt ein Herr mit Hartschalenhandkoffer und Schlips, der am Straßenrand wartet.
Ich trinke zwei Kaffee in einer neonbeleuchteten Bude und denke über die Warnung des Obstverkäufers in Salem nach, bevor ich in der Dämmerung auf einen haltenden Bus springe. Er ist rappelvoll. Wie ein Affe hänge ich, wegen der niedrigen Decke kurz über dem Bauchnabel abgeknickt, an einem abgewetzten Metallgeländer. Im Fernseher neben dem Fahrer läuft ein Film: Ein Mann verteidigt sich in der Mitte eines Feuerkreises mit Handkantenschlägen gegen vermummte Angreifer, die schwarze Säbel schwingen. Nach fünfzehn Minuten Fahrt tippt mir ein freundlich lächelnder Alter vorsichtig auf die Schulter, um mich darauf aufmerksam zu machen, dass ich ihm ständig im Takt des wackelnden Busses mit den Laschen meines Rucksacks über das Gesicht pinsele.
Im nächsten Ort steige ich aus. Er heißt Harur und liegt im elektrizitätslosen Dunkel. Drei Schuljungen führen mich zu einem Hotel in einer Nebenstraße des Bahnhofs. Fünf Stockwerke sind um einen Innenhof errichtet, der mit Motorrollern und Autos vollgestopft ist, dazwischen röhrt ein Dieselgenerator. Kurz nach Mitternacht, ich liege bereits unter meinem
Moskitotunnel, klopft es an der Tür meines Hotelzimmers. Unwillig sperre ich den Riegel auf. Der Local Inspector, ein sportlich wirkender Brahmane mit weißen Strichen auf der Stirn und einer dicken Gebetskette auf der behaarten Brust, brüllt mich an: »Was willst du hier? Harur ist kein Touristenort. Fährst du mit dem Motorrad durch Indien? Was ist dein nächstes Ziel?«
Er fordert meinen Pass samt Ausweisnummer. Ich weigere mich. Ich bin todmüde. Warum muss der Mann mich mitten in der Nacht aufschrecken? Vermutlich will er sich nur aufspielen. »Wir haben auch eine Zelle im Gefängnis«, droht er. Widerwillig fülle ich seine Akte aus.
An den folgenden Tagen durchquere ich Waldstücke und Hügel. Irgendwo auf einem Markt, auf dem ich ein halbes Dutzend kleiner Bananen für unterwegs erstehe, verliere ich meinen Stock. Aber ein kleiner Junge läuft mir hinterher, hält mich am Rucksack fest und drückt ihn mir schüchtern lächelnd in die Hand. Ansonsten beachtet mich kaum jemand. Ganz anders als der Inspektor behauptete, fühle ich mich, als wäre ich keineswegs der erste Westler mit Ultraleichtrucksack, der sich hier herumtreibt. Ich bin fast beleidigt, wie wenig man mich wahrnimmt.
»Die Leute in dieser Gegend sind Ausländer gewohnt«, sagt ein junger Mann, in dessen Straßencafé ich an einem Nachmittag unterzuckert nach Limonade frage. »Sie waren alle hier. Die Christen, die Araber, die Briten. Auf dem Weg nach Bangalore oder im Krieg. Und vor zwanzig Jahren kam dann das ganze internationale IT-Geschäft. Neu ist hier überhaupt nichts.«
In dem Ort Uttangarai beziehe ich ein Hotel im Stadtzentrum, dessen glaslose Fenster nur mit Holzläden verschließbar sind. In einem Haushaltswarenladen fallen mir Bündel von
Zwillen ins Auge, die von einem Pfeiler baumeln: kräftige, primitive Waffen, wie sie Kuhhirten benutzen, um ihr Vieh beieinander zu halten. Ich kann dem verwunderten Verkäufer nicht erklären, warum ich ein Exemplar kaufe, handgroß und rot-gelb bepinselt. Ich weiß es selbst nicht genau. Die Gegend ist beschaulich, geradezu verschlafen. Niemand behelligt mich auf meiner Wanderung durch die Dörfer und über die Landstraßen. Aber diese Beschaulichkeit gibt mir keine Sicherheit. Ganz im Gegenteil. Sie weckt in mir die Sehnsucht, teilzunehmen, dabei zu sein. Irgendwo dazuzugehören. Und lässt mich
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