Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Tempelkomplex steuert. »Sie haben ein System von Subunternehmen. Die sollen bestimmte Anforderungen erfüllen, keine Kinder beschäftigen, den Minimallohn zahlen und so weiter. Aber wer will das kontrollieren?«
Wir erreichen ein Industriegebiet. Bettgestelle stapeln sich in Tischlerschuppen, entkernte Dreiradtaxis rosten vor Autowerkstätten. In garagenartigen Läden hocken Heerscharen von Arbeitern an gusseisernen Nähmaschinen. Wir steigen aus. Indraraj klemmt sich den Daumen in der zugeschlagenen Fahrertür. Er gießt Wasser auf ein altes Hemd und umwickelt ihn damit. Während sich langsam ein roter Fleck auf dem Tuch ausbreitet, laufen wir von Geschäft zu Geschäft. Indraraj fragt nach dem Alter der Arbeiter, nach dem Auftraggeber. Wir arbeiten uns durch Gasse um Gasse.
Vor einem türkisen, zweistöckigen Gebäude mit Wellblechdach bleibt er schließlich stehen. »Kennst du diese Schilder?«, fragt er. Unter den Blicken eines kahl geschorenen Mittvierzigers im Unterhemd werfen zwei kräftige Frauen Stoffbündel auf die Ladefläche eines dreirädrigen Viertakttransporters. Das bunte Logo eines bekannten europäischen Einrichtungshauses leuchtet auf den Etiketten. Indraraj fragt nicht lange. Er öffnet die Tür. Der ganze Innenhof ist hüfthoch mit rot-weiß-lila
gestreiften Schürzen gefüllt. Der Mann im Unterhemd führt uns eine Treppe hinauf. Unter dem Blechdach sitzt ein knappes Dutzend Frauen und Männer in einem stickigen Raum. Durch zwei winzige Auslassungen in der Backsteinwand dringt feuchte Luft. Die Arbeiter treten in die Pedale, konzentriert manövrieren sie die bunten Stoffabschnitte zwischen den Füßchen und Stichplatten der Nähmaschinen hindurch. Nur das Summen der Gummiriemen und das rhythmische Rattern der Nadeln ist zu hören.
»Ich habe einen Vertrag mit den Europäern«, sagt der Unterhemdträger und kreuzt die Arme vor dem Schmerbauch. »Acht bis zwölf Leute nähen meistens für mich. Je nach Auftragslage. « In einer Ecke beugt sich ein Mädchen mit rundem Gesicht und strengem Dutt über den Nähtisch. Sie sieht aus wie ein Kind. »Das ist Anandi«, sagt der Betriebsleiter. »Sie ist erst neunzehn. Aber sehr fleißig.«
»Ich arbeite mit meiner Mutter hier«, sagt Anandi und blickt kurz zu einer Dame in rosa Synthetiksari am Nachbarnähtisch. Ich frage sie, ob sie weiß, für wen die Schürzen sind. »Die werden nach Amerika gebracht, oder?« Sie greift nach der Stoffbahn und schiebt sie unter der ratternden Nadel entlang. »Ist mir auch egal. Hauptsache, ich verdiene genug.«
»Und was ist, wenn du krank wirst?« Das Mädchen fegt sorgsam die bunten Stoffreste von ihrem Schoß. »Dann arbeite ich trotzdem.«
Anandis Mutter lädt uns zum Abendessen ein. Ihre Familie wohnt 15 Kilometer entfernt am Südrand Karurs. »Ich schätze, dass sie höchstens siebzehn ist«, sagt Indraraj, während er einhändig den Bus steuert, den linken Daumen immer noch in das Hemd gewickelt. »Zumindest hat sie nicht gestern erst angefangen zu nähen. Dazu bekommt sie zu viel Geld.«
Mir wird auf der Schlaglochpiste übel. Vielleicht liegt es am Essen vom Vorabend, kalter Fisch, der offenbar schon länger in einer großen Plastikschüssel auf dem Tresen eines Straßenrestaurants gelegen hatte. Mein normalerweise schwer zu beeindruckender Magen rumort unüberhörbar. In Indien ist es nicht zu vermeiden, sich mit irgendwelchen Darmbakterien zu infizieren. Zumindest nicht, wenn man reist wie ich. Zwar entkeime ich mein Trinkwasser meist, wenn ich es aus Brunnen schöpfe, oder kaufe abgefülltes Mineralwasser. Aber wenn es um die Hygiene in Straßenrestaurants und Kaffeebuden geht, kann ich nur dem Augenschein vertrauen.
Die Wohnung von Anandis Familie liegt hinter der dreistöckigen Fassade der Bank of India, sie ist eine von zehn Einheiten eines niedrigen Lehmreihenhauses. An der offenen Kanalisation hocken junge Frauen und waschen Hemden. Ein kleiner Junge trägt eine Affenmaske aus Pappe im Gesicht und schiebt einen weißen Schuhkarton mit der Aufschrift »Capitol« über den Lehmboden. Als ich in den Hinterhof trete, stürzt plötzlich eine alte, kurzhaarige Hündin mit einer offenen Wunde auf dem Rücken aus einem Hauseingang und schnappt nach meinem Hosenbein. Ich fluche laut. Ein Mädchen trennt uns mit dem gezielten Wurf eines Waschprügels.
Vier mal vier Meter misst die Behausung der Familie. In der Küchennische finden ein Stapel Aluminiumtöpfe, Teller und Plastikkrüge Platz. In dem
Weitere Kostenlose Bücher