Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
noch die Kinderarbeit. Fünfundzwanzigtausend Kinderarbeiter gibt es hier. Sie arbeiten für die Edelsteinschleifereien. Aber auch für die ganz Großen in der internationalen Textilbranche.«
Er ruft in einen Raum neben der Küche, vor dem sich auf einem langen Holztisch ein halbes Dutzend leere Packungen von chinesischen Computern und Druckern stapeln. »Indraraj,
zeig diesem Herren die Textilmanufakturen.« Indraraj ist ähnlich pummelig wie sein Vater. Auf seinem Kopf erhebt sich ein gewaltiger, schwarzer Haarwust, den er mit reichlich Pomade bis in den Nacken hinabgestriegelt hat. In seinem gebügelten rotkarierten Hemd und der engen Jeans würde er in Deutschland gut einen Unternehmensberater abgeben.
Wir springen in einen knatternden Kleinbus. »Es wird schwer sein, die Kinderarbeiter zu Gesicht zu bekommen«, sagt Indraraj. »Viele nähen in Privathaushalten oder Kleinstbetrieben. Wenn wir kommen, fallen die Türen zu.« Wir überqueren eine Brücke über den Amaravathi, einen Zufluss des Kaveri, von dem nur einen Monat nach dem Monsun nicht mehr zu sehen ist als ein schmaler, trüber Wasserlauf inmitten eines Hunderte Meter breiten Flussbetts. Ein knochiger Mann mit nacktem Oberkörper hockt auf einem grauen Felsblock und wirft ein Fischernetz in den Strom. Ein paar Jugendliche angeln ohne Ruten. Rosa schimmernd schlängelt sich ein Seitenarm durch bunte Abfallhalden. Einer kleinen schwarze Ziege hängt eine Plastiktüte um den Hals. Einzelne Kokospalmen leuchten am anderen Ufer zwischen niedrigen Gebäuden.
Es ist dieses Flusssystem, an dem die Geodäten des Great Trigonometrical Survey auf die ersten gravierenden Schwierigkeiten stoßen. Im Jahr 1807 unterbricht Lambton seine Arbeit und reist wieder nach Chennai, um von dort aus nach Süden vorzustoßen. Auf Drängen der Regierung soll er jetzt zunächst einen Vermessungsstrang entlang der Ostküste vorantreiben, der parallel zum 78. Längengrad verläuft. Lambton bekommt den Auftrag, exakt die Länge eines einzelnen Grades zu bestimmen, um so eine breite Grundlage für die Triangulierung der gesamten Halbinsel zu schaffen.
Aber das Land am Kaveri ist schwer zu vermessen. Es ist zu flach. Und vor allem: zu grün. Die Region ist von dichten Kokoswäldern bestanden. Im Inneren der Halbinsel konnten die Wissenschaftler, wenn auch oft gegen den Widerstand der Bevölkerung, ihre Beobachtungsstationen auf den Hügeln errichten, die sich in unregelmäßigen Abständen aus der Ebene erhoben. Aber die einzigen Punkte, die aus den Kronen der Palmenwälder am Kaveri ragen, sind die riesigen, Jahrhunderte alten Hindutempel.
Lambton verhandelt mit der Regierung, er palavert mit den Priestern. Bündel von Geldnoten wandern durch viele Hände, bevor seine Männer das erste Heiligtum erklettern, um dort ihre Messstation zu errichten. Von nun an peilen sie von Tempeldach zu Tempeldach über die grüne Wand der Palmen hinweg.
Doch es dauert nicht lange, bis das erste Missgeschick geschieht. An einem Morgen im Jahr 1808 baumelt der große Theodolit an einem Flaschenzug über dem sechzig Meter hohen Tempel von Thanjavur, als das Halteseil reißt. Das eine Tonne schwere Gerät prallt auf die Dachschräge und stürzt zu Boden. Statuen und Schutt rutschten hinterher. Das penibel geeichte Instrument ist gestaucht, umgerechnet Tausende britischer Pfund sind in Sekunden vernichtet. Und das Heiligtum ist beschädigt. Die Hindupriester sind in Aufruhr.
William Lambton hätte seine Mitarbeiter zur Rechenschaft ziehen können. Er hätte den Verantwortlichen suchen und die Kosten von London begleichen lassen können. Aber er handelt mit Bedacht und übernimmt die volle Verantwortung. Lambton versucht, den Theodoliten eigenhändig zu reparieren. Wochenlang doktert er in einem Zelt mit Keilen, Schrauben und Flaschenzügen an dem demolierten Messgerät herum, bis es wieder funktioniert. Der Leiter des Great Trigonometrical
Survey beweist, was heute noch gilt: dass der Erfolg einer Expedition immer auch von der Improvisationsfähigkeit seiner Teilnehmer abhängt. Und von einem guten Führungsstil.
Unser Wagen hoppelt auf der Südseite des Flusses auf einer Sandpiste durch eine offene, hügelige Fläche. Dann führt der Weg in die zentralen Stadtviertel Karurs hinein. »Die ausländischen Unternehmen gehen kein Risiko ein«, sagt Indraraj, während er durch eine enge Gasse, vorbei an den geschlossenen Läden der Laxmi Vilas Bank und einem rosa getünchten, fünfgeschossigen
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