Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
Vom Netzwerk:
idealer Platz, wie ich beim Näherkommen feststelle. Das Gestrüpp außen herum ist abgefackelt, das sonnenwarme Flachdach eben und sauber. In dem verlassenen Speicher liegt nur ein
Haufen Kot. Zur Sicherheit stapele ich ein paar Dutzend Feldsteine auf das Dach und platziere meinen Stock daneben. Im Schatten der Behausung esse ich die Samosas, warte bis die Februarsonne hinter einen spitzen Hügel gefallen ist, der aussieht wie ein Elefantenkopf, und klettere aufs Dach. Ich krieche in meinen Schlafsack und lausche den Geräuschen auf der wenig befahrenen Landstraße. Ein Lkw hupt. Ein Ochsenwagen fährt hufklackernd vorbei. Aus einem Überland-Dreiradtaxi höre ich übermütiges Kindergeschrei. Der stetige Geräuschpegel beruhigt mich.
    Ich schlafe bis nach Sonnenaufgang und wache auf, weil etwas an meinen Füßen zupft. Ich reiße die Augen auf. Blitzartig greife ich nach meinem Stock und schwinge ihn über meinem Kopf. Ein braunes Etwas huscht vom Dach. Ich blicke hinab – und in das Gesicht eines Bauernjungen. Er sitzt auf der Schulter eines anderen Knaben, die rechte Hand noch an der Dachkante. Beide schreien erschrocken auf. Und rasen über die Stoppeln davon. Die Angst der Einheimischen vor dem Ausländer ist so groß wie die des Fremden vor Verrückten, die ihn im Schlaf überfallen könnten.
     
    Die letzten zwei Wandertage durch das zentrale Andhra Pradesh verlaufen ruhig. Die Dörfer sind grüne Inseln in der staubigen Einöde. Sie riechen nach Geranien und Heu, nach einer strengen Mischung aus Orangenblüten und frischem Asphalt. In den Oasen flattern Schwärme weißer Falter aus Bougainvilleas. Aber draußen auf dem Land sind die wenigen Reisfelder brandgerodet und gesäumt von dicken Salzkrusten. »Har Har« und »Hoy« rufen die Hirten, wenn sie ihre Kühe und Büffel darübertreiben. Ich lese das Schild eines Aufforstungsprojektes. Bis vor drei Jahren sollten in der flachen Steppe zweitausend Bäume gepflanzt sein. Ich sehe keinen einzigen.
    In einem Dorf vor der Stadt Tadipatri gehen zwei Jünglinge mit offenen Hemden fäusteschwingend aufeinander los, hinter jedem hat sich eine Traube grölender Mitstreiter versammelt. Ein strenger Alter versucht den Zwist zu schlichten. »Was ist los?«, rufe ich ihm zu, während ich mich durch die tobende Menge schiebe. »Sie streiten um Wasserrechte«, antwortet der Alte.
    In Tadipatri komme ich in einer Offsetdruckerei mit einem Mann ins Gespräch. Er tackert Schwarz-Weiß-Drucke für das fünfundzwanzigjährige Jubiläum einer Secondary School zu vierseitigen Broschüren zusammen. Ich erzähle ihm von dem Wasserstreit. Indien sei ein Land der Parallelgesellschaften, proklamiert er. Sein kultureller Reichtum habe sich nur durch Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der anderen Kasten, der anderen Religionsgemeinschaften erhalten können. »Das Kastensystem zerfällt. Heute müssen auch Brahmanen in Fabriken und auf Baustellen schuften. Dalits werden Politiker und Präsidenten. Aber die alten Denkweisen sind geblieben.« Für die Gesellschaft als Ganzes fühle sich keiner verantwortlich. »Wir werfen den Müll auf die Straße, weil irgendein anderer ihn schon aufheben wird. Wir hinterlassen verdreckte Klos, weil irgendjemand sie schon sauber machen wird. Wir prügeln uns um Wasserrechte. Und darum, wer als Erster in den Zug steigen darf. Selbst wenn wir Platzkarten haben. Indien ist jeder gegen jeden.«
    Am letzten Tag meiner Wanderung in diesem Winter verwandelt sich die Landschaft noch einmal. Kantige Sedimente durchstoßen jetzt die verwehte Schicht roter Erde. Die Sandwüste weicht einem toten Meer aus Stein. Männer in Feinripp-Unterhemden und Arbeiterinnen mit weißen Kopftüchern stehen Hunderte Meter tief in Kalkgruben. Bis zum Grundwasser hinab schneiden sie blaue Platten aus dem Boden. Zwischen
den Gruben türmen sich Halden von braunem Abraum. Ihr Hämmern ist meilenweit zu hören und oft das einzige Geräusch. Der Wind wechselt fast unmerklich von Nord auf Süd. Trecker donnern mit Steinplatten auf den Anhängern vorbei. Ich passiere eine Zementfabrik und frühstücke in einer Wellblechbarackensiedlung, in der die greise Teestubenbesitzerin den Arbeitern vor Schichtbeginn frittiertes Fladenbrot in Zeitungspapier wickelt.
    Oberhalb der Fabrik liegt ein verlassenes Dorf, aufgegebene Terrassenfelder, ein ausgetrockneter Fluss in den Hügeln, dahinter eine Stadt, komplett aus Stein. Die Mauern der Wellblechdachhäuser sind aus Steinplatten gebaut,

Weitere Kostenlose Bücher