Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
erklärt Chowdary. »Wie die anderen Verurteilten da.« Er zeigt auf zwei Frauen, die in identischen weißen T-Shirts unter einem Baum hocken.
Die Gemeinschaftszelle des Frauentrakts ist leer bis auf einen Einbauschrank, der die gesamte Längsseite einnimmt. In den Schrankfächern liegen Matratzenrollen. Gegenüber steht ein Fernseher auf einem Beistelltisch. »Zehn Häftlinge wohnen hier«, sagt Chowdary. »Drei Quadratmeter pro Person, das ist das Mindestmaß.« Ich stelle mir vor, wie in Stoßzeiten fünfundzwanzig Gefangene hier unterkommen.
Im Meditationsraum flattern blau-weiße Wimpel von der Decke, an der Stirnseite hängen ein Gemälde des hinduistischen Asketen Vivekananda und eine psychedelisch wirkende Grafik, in der bunte Linien zu einem poppigen Lichtfetzen verschmelzen. God is One steht darunter. In der Küche bröckelt der Putz in einen unbeaufsichtigten Alutopf, in dem braune Linsen köcheln. »Zweimal am Tag gibt es Reis und Linsen. Jeden Sonntag macht der Koch Hammel«, sagt Chowdary.
Neben einem Gitterfenster lehnt gelangweilt eine dünne, vielleicht vierzigjährige Frau in grünem Sari und mit hochhackigen weißen Lackschuhen. Ich frage sie, weswegen sie eingesperrt ist. »Keine Ahnung«, sagt sie und kratzt sich am Scheitel. »Es war zu Diwali. Wir aßen zu Mittag. Da kam die Polizei rein und nahm mich mit. Sie sagten, ich habe eine Nachbarin umgebracht. Aber das ist eine Lüge. Seit drei Monaten bin ich jetzt hier.« Ich frage sie, ob sie einen Anwalt
hat. Aber Chowdary bricht das Gespräch ab. »Übernächste Woche muss sie zum Richter«, sagt er, blickt auf seine silberne Armbanduhr und weist mir den Weg zum Ausgang. »Sie müssen jetzt gehen.«
Am offenen Haupttor dirigiert ein halbes Dutzend Wächter eine Gruppe Häftlinge in den äußeren Hof, in dem ein Gefangenentransporter mit blubberndem Diesel wartet. Rund um die Betonbank hat sich eine Schar Besucher angesammelt. Aus dem Augenwinkel sehe ich den alten Obstverkäufer, der, ehrfürchtig einem Wärter salutierend, das Gefängnis verlässt. Das leere Papayanetz baumelt in seiner Linken. »Was ist denn nun das Besondere an diesem Gefängnis?«, frage ich den Gefängnisleiter. »Was soll hier besonders sein?« Chowdary zündet sich im Gehen ein Bidi an. »Es ist ein ganz gewöhnliches Distriktgefängnis.«
»Und wieso steht dann Open Air Jail daran?«
»Sie haben sich verlaufen, Sir. Das Open Air Jail ist auf der anderen Straßenseite. Aber jetzt muss ich leider zurück in mein Büro. Nett, dass Sie uns besucht haben.«
Ich trete aus dem niedrigen Buschwerk auf die schlecht asphaltierte Straße nach Tadipatri, über der die Sonne senkrecht am Himmel steht, und tauche auf der gegenüberliegenden Seite in den Schatten der Alleebäume ein. Ein roter Sandweg führt schnurgerade zwischen Sonnenblumenfeldern und einer Reihe Bungalows hindurch. »Verwaltung« steht an einer Gartenpforte. Dahinter sitzt eine Dame in blauem Sari auf einer Veranda in einer Hollywoodschaukel. Ich frage sie, ob ich mit dem Leiter des Gefängnisses sprechen kann. »Mein Mann schläft noch.« Sie weist auf die zugezogenen Gardinen im Fenster hinter ihr. »Versuchen Sie es in einer Stunde wieder. Solange können Sie sich ruhig umschauen.«
Der Sandweg führt weiter zu einer Ansammlung von Stallungen. Ein nackter Junge wäscht sich an einer Handpumpe den Bauch und zwitschert einer Ente zu, die in einem Betonbecken herumspritzt. Ein Mann in kurzen blauen Hosen treibt mit scharfen Rufen zwei vor einen Pflug gespannte Ochsen über den Weg. Das Gerät hängt schief, immer wieder schlägt das Metall einem Tier gegen den Huf.
Neben einem Stall sitzt ein kleiner Herr mit Schnauzer, Halbglatze und Segelohren vor einer Anzahl schwarzer Haufen und rüttelt groben Kompost durch ein großes Sieb. Er ist ein Häftling, wie es scheint. Ich frage ihn, warum er hier ist.
»Ich habe einen Mann getötet. Er wollte vor Gericht gegen den Chef meiner Partei aussagen. Kurz vor der Wahl. Da haben wir ihn in den Wald gelockt und erschlagen.«
»Und was ist dann passiert?«
»Sie haben uns noch vor der Wahl verhaftet. Aber unser Kandidat hat trotzdem gewonnen. Aus der Zelle heraus.«
Der Gefangene legt das Sieb beiseite, nimmt eine Schaufel und füllt einen blauen Plastiksack mit Kompost. Der strenge Geruch von Kuh- und Büffelkot steigt auf. »Vor zehn Jahren wurde ich verurteilt. Sieben Jahre habe ich im Zentralgefängnis gesessen. Vor zwei Jahren haben sie mich wegen guter
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