Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Führung hierherverlegt. Jetzt bin ich so gut wie frei. Ich arbeite, am Wochenende besucht mich meine Familie, sie schläft im Gästehaus. Ich fahre zum Markt von Anantapur, um Gemüse zu verkaufen. Nur nachts muss ich in der Baracke da sein.« Er zeigt auf ein weiß gestrichenes Haus gegenüber. In der Achsel seines blauen Baumwollhemdes klafft ein großes Loch. Ein höflich grüßender Wächter radelt vorbei. Ein Specht klopft lautstark in einem Wipfel.
Der Schnauzbärtige hievt den Sack auf einen Holzkarren und fährt ihn in den Stall. Dort ist der Kompost zu großen
Haufen aufgeworfen. Er greift in einen hinein und präsentiert mir einen fetten, weißen Regenwurm. »Das war mal Kacke.« Er grinst. »Jetzt ist es beste Muttererde.«
Wir stapfen über die umliegenden Plantagen und Felder. Der Häftling humpelt mit dem rechten Fuß. »Deswegen kann ich nicht auf dem Feld arbeiten.« Er zeigt mir die Mangoplantage, jahrzehntealte Bäume mit massiven Stämmen und runder Krone so weit das Auge reicht. Er führt mich in die Karottenfelder. »Zu dem Gefängnis gehören mehr als vierhundert Hektar Land. Wir produzieren Milch und Gemüse für alle hundertachtzig Gefangenen. Wir verkaufen Mangos, Teakholz und neuerdings auch Seide.« Er zupft einen frischen Bund Karotten aus den säuberlich angelegten Reihen, reißt das Grün ab und bietet mir die vier Wurzeln an. »Sonnenblumen, Linsen, Erdnüsse, was Sie wollen. Anantapur zählt zu den trockensten Regionen Indiens. Aber wenn Sie Wasser auf den roten Sand hier gießen, wächst alles. Haben Sie Hunger?«
In der Mittagshitze entfacht der Häftling ein Feuer unter einem alten Mangobaum. Als die Glut heiß genug ist, wirft er Karotten, Auberginen und Kartoffeln ungeschält hinein und lässt sie langsam garen. »Vegetarian Indian Barbecue. Es gibt nichts Gesünderes.« Wir pulen das Gemüse aus den harten, heißen Schalen und trinken frisches Brunnenwasser aus einem irdenen Krug. Im Zentralgefängnis habe er ständig an Flucht gedacht, aber hier nie, sagt der Gefangene und stochert mit einem dornigen Ast die letzten zwei Kartoffeln aus dem Feuer. Den anderen Insassen gehe es ähnlich. »Das letzte Mal ist hier vor drei Jahren einer abgehauen.«
Ich frage mich, wie es möglich ist, dass gesellschaftlicher Fortschritt und juristische Rückständigkeit so dicht nebeneinander liegen, ohne einander zu berühren. Seine Menschenrechte einzufordern, muss man sich in diesem Land leisten
können. Ich denke an die ungezählten indischen Inhaftierten, die jahrzehntelang nicht verurteilt werden, weil ihnen nach einem Gesetz, das noch von den Briten stammt, schlicht das Gerichtsverfahren vorenthalten wird. Und weil sie, ungebildet und wehrlos, ihr Schicksal einfach hinnehmen.
Auf dem Rückweg über die Sandpiste ist im Verwaltungsgebäude niemand zu sehen. Als ich das Open Air Jail durch das gusseiserne Tor wieder verlasse, wirft die grelle Sonne ein gleißendes Licht gegen die grauen Mauern des District Jail auf der anderen Straßenseite. Die nur von zwei schlingernden Radlern befahrene Straße nach Norden liegt vor mir wie die Trasse in eine Zukunft voller zweifelhafter Chancen.
Durch die Wüste
Hinter den ungleichen Gefängnissen beginnt die Wüste. Bis zum Abend taucht kein einziges Dorf aus der Ebene auf. Nur die nackten, hellbraunen Seshachalam-Berge, die Ausläufer jenes Bergsystems, das Indiens Ostküste von Tamil Nadu bis hinauf nach Bengalen flankiert. Mit der Sonne schräg im Rücken erreiche ich eine Siedlung, eine Oase aus quadratischen Katen neben einem Stausee. Ich decke mich mit zwei Dutzend losen, runden Butterkeksen und sechs Samosas für die Nacht ein. Ich fülle meine Wasserflaschen an einem von vier tröpfelnden Hähnen, die am Straßenrand aus einer Steinmauer ragen, mit einer gelblichen Flüssigkeit, und desinfiziere sie mit Trinkwasserentkeimer. In den Hügeln jenseits des Dorfes schaue ich mich zwischen Tomatenfeldern und Guavenhainen nach einer Übernachtungsmöglichkeit um. Ich verwerfe die schmale Plattform auf einem zehn Meter hohen Wasserspeicher, zu dem eine rostige Wendeltreppe emporsteigt, weil gegenüber in einer Siedlung von Behelfszelten aus schwarzer Plastikfolie die Arbeiter einer Steinschneiderei gerade ihre schreienden Kinder zu Bett bringen. Und weil keiner sehen soll, wo ich mein Quartier errichte, wenn ich draußen übernachte.
In einem Stoppelfeld erspähe ich einen mannshohen Quader, zweihundert Meter vom Straßenrand entfernt, ein
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