Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
rekrutiert. Gemeinsam mit der Armee griffen sie die Stadt an. Obwohl Hyderabad reif war für ein Plebiszit. Bis heute wird dieser Angriff police action genannt. Aber in Wahrheit war es eine militärische Aktion.«
Das Mädchen reicht Kekse auf feinen Silbertellern mit Glasornamenten.
»Probieren Sie, das ist ein altes Rezept des Hauses«, sagt Ahmed. Er beißt vorsichtig in einen, der aussieht wie eine kleine weiße Blüte, und lümmelt sich zurück in seinen Sessel.
»Mein Vater war damals Polizeichef von Hyderabad.« Seine kleinen, trüben Augen werfen einen müden Blick auf einen Angestellten, der im Garten einen Busch beschneidet. »Ich sehe noch heute vor mir, wie der Mob nach der Einnahme der Stadt durch die Straßen zog, ‚ Jai Hind ’ rief, junge Männer aus
den Häusern holte und tötete. Zweihunderttausend Muslime wurden gelyncht. Ein Großteil der Elite Hyderabads floh nach Pakistan. Aber wir sind hiergeblieben, weil wir uns als Inder fühlen. Weil wir an einen Staat glauben, der alle Religionen vereint. Die indischen Muslime sind dem Staat gegenüber immer loyal gewesen. Nicht weniger als Allah.«
Er führt mich zu einem verglasten Holzschrank im Inneren des Anwesens. In den mit Intarsien verzierten Kopf des Möbels ist ein Bild seines Großvaters Aziz Jung eingearbeitet, die Nickelbrille und ein zuversichtlicher Blick zwischen langem Bart und weißem Turban. Hinter der Scheibe ruht sein Lebenswerk auf Arabisch: vergilbte Schriftstücke mit Titeln aus den Bereichen Finanzen, Landwirtschaft und Lexikografie. »Mein Großvater war kein Orthodoxer, ich bin es auch nicht. Ich habe keinen Bart, aber ich habe studiert. Ich habe die Bhagavad Gita ins Arabische übersetzt. Und kenne sie besser als mancher Hindu.«
Als wir ins Herrenzimmer zurückkehren, frage ich mich, in was für einer verschrobenen, verstaubten Welt ich gelandet bin. Im Herzen des muslimischen Zentralindiens scheinen die Regeln des Islam ebenso zu gelten wie die ursprüngliche Maxime des indischen Freiheitskampfes: dass Indien ein einziger Staat sei, von Karatschi bis Dhaka. Dass Hindus und Muslime einer Nation angehörten. Doch ich spüre auch die Verletztheit der größten Minderheit dieses Landes bei dem hemdsärmeligen Versuch meines Gastgebers, die Geschichtsschreibung der Nation zu beugen: Waren es nicht, ganz anders als er es darstellt, in Wahrheit die Vertreter der Muslime und nicht die der Kongresspartei, die die Teilung des Landes in Pakistan und Indien forcierten? War es nicht die Muslim League, die die Religion zum wichtigsten Identifikationsfaktor der indischen Muslime erklärte, anstelle von Sprache oder
Herkunft? Mein Gastgeber trägt nicht Kappe und Bart wie die Strenggläubigen. Aber wie Hasanuddin Ahmed dasitzt in seiner altertümlichen westlichen Kleidung, in einer Nische hinter ihm die angeschlagene Keramikfigur zweier arabischer Kamelreiter, an der Wand ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem er mit Indira Gandhi zu sehen ist, in der Tür die kleine, Telugu sprechende Dienerin, die jetzt Salzgebäck bringt, wirkt alles ebenso geschichtsträchtig wie absurd. Ein über die Jahrhunderte zusammengepuzzelter Kosmos, der jüngst in eine deutliche Schräglage geraten ist.
Durch den Eingang des Herrenzimmers schlurft ein rundlicher Mann in schwarzem Anzug. Es ist Ahmeds Bruder, eine Gentlemanerscheinung mit zurückgegeelten Haaren und weichen Gesichtszügen. Eigentlich sei er Jurist, sagt er, während Khuddus den Raum zum Nachmittagsgebet verlässt. In London sei er zur Universität gegangen, lange habe er dort gelebt. Aber heute interessiere er sich vor allem für Kaligrafie. Bei seinen Studien sei er zu dem Schluss gekommen, dass die indischen Schriften von der tibetischen abstammten. »Komisch«, bemerke ich. »Ich habe genau das Gegenteil gelernt.« Nach gängiger Forschermeinung haben indische Gelehrte im 7. Jahrhundert jene Schriftzeichen über den Himalaya gebracht, aus denen sich das Tibetische bis heute zusammensetzt.
Ich bringe das Gespräch auf den deutschen Soziologen Max Weber und seine Interpretation des Islam als hedonistisch und antikapitalistisch. Hasanuddin Ahmed ergreift wieder das Wort. »Ich verehre Weber«, sagt er. »Aber von unserer Religion hatte er keine Ahnung. Wie er glauben bis heute viele im Westen, die islamische Gesetzgebung wäre irrational. Das Gegenteil ist der Fall. Wir Muslime lehnen den Kapitalismus aus höchst rationalen Gründen ab. Weil er ungerecht ist und kolonialistisch.«
Khuddus ist
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