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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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zu menschlichen Knäueln. In den Zimmern hocken kleine Jungen und Jugendliche auf dem Boden, wippen auf und ab und intonieren einen gleichförmigen Singsang. Ahmed zeigt mir die einfachen Klassenzimmer, niedrige Tische aus Holzimitat, darauf wilde Stapel von Büchern mit arabischen Titeln, verglaste Regale mit weiteren Büchern. An der Wand eines Raumes ein Poster mit dem Schriftzug The Tree of Knowledge. A brief Compilation of the Teachers and Students of Imam Abu Hamifah R. A. , darunter ein Baum mit Dutzenden roter und gelber Äpfel, auf deren Blätter die Namen jener Gelehrten geschrieben sind. »Wir bringen den Schülern auch Basiswissen in Englisch, Mathematik, Elektronik und PC-Kenntnisse bei. Das Geld kommt aus Spenden, aus dem Zahat, der verpflichtenden Abgabe der Gläubigen an Bedürftige. Muslime aus ganz Hyderabad unterstützen uns. Tausendachthundert Schüler und Zwölfhundert Schülerinnen unterrichten wir, dreihundert von ihnen wohnen auch hier. Die jüngsten sind sieben Jahre alt.«
    Eine Schar kleiner Schüler folgt uns tuschelnd, aber ernst und in respektvollem Abstand. Ahmed erzählt mir von den neuen Mädchenklassen und öffnet die Holztür zu einem engen Zimmer, das nach Mottenkugeln riecht. Darin ist nichts als ein einziges abgewetztes Sitzkissen. Er schiebt den grünen Vorhang zu einem kleinen Innenfenster zur Seite, hinter dem sich ein weiterer schlichter Klassenraum befindet: »Weil wir keine Lehrerinnen haben, unterrichten die Lehrer hinter diesem Vorhang.«
    Wir setzen uns in sein Zimmer in einem niedrigen Nebengebäude. In einer in Gold gefassten Vitrine parken Plastikautos, daneben bläht ein Gockel die knallrote Emaillebrust, zwei Delfine aus Porzellan machen einen Synchronsalto vor einem dunkelbraunen Vertikomodell, in dem eine Miniaturkuckucksuhr tickt. Um die Glasscheiben der Vitrinen hängen Kunstblumen, unter zwei Neonröhren prangen Kalligrafien mit den arabischen Aufschriften »Allah« und »Es gibt nur einen Gott«. Auf der Couch liegen Häkelkissen. Aus einem Vorhang an der Stirnseite reicht eine kindlich aussehende Hand eine lila Wasserflasche und zwei Plastikbecher. Ahmed stellt sie auf den niedrigen Glastisch. Wir trinken.
    »Die Welt ist eine Illusion«, sagt er und fährt sich durch den Bart. Er erzählt, was die Schüler lernen, um nach sieben Jahren Hafiz zu werden, dann Alim, dann Mufti. »Wir lehren vor allem den religiösen Islam. Aber es geht auch um ganz pragmatische Dinge, zum Beispiel um die richtige Art zu essen. Der Islam ist ein Programm für das ganze Leben.«
    »Warum lehren Sie für das Diesseits, wenn die Welt eine Illusion ist?«
    »Damit die Schüler nach dem Tod in den Himmel kommen. «
    Ich frage Ahmed, was er über Gewalt denkt, ob ein Muslim sich wehren soll, wenn er angegriffen wird.
    »Gewalt ist immer das falsche Mittel«, sagt er. Aber es gebe andere Meinungen. »Fragen Sie mal meinen Vater oder meinen Großvater. Die haben gelernt zu kämpfen. Die sagen, dass ein Arzt nun mal schneiden muss, um ein Geschwür zu entfernen. Dass die Katze nun mal kratzt, wenn sie angegriffen wird.«
    In der Gebetshalle treibt ein Helfer mit einem Holzstock die Schüler zu Reihen zusammen. Alle sind barfuß. Ahmed bedeutet mir, mich neben ihn hinzuhocken. Ich werfe mich
auf dem roten Teppich nieder. Aber es gelingt mir nicht, zu Gott zu beten. Es ist nichts als eine äußerliche Geste. Ich bleibe auch hier ein Fremder.
     
    Am Abend habe ich eine Verabredung in Banjara Hills im Nordwesten der Stadt. Ein Bekannter von Khuddus möchte mit mir sprechen, er ist Anwalt und Menschenrechtler. Im Eingangsbereich des feinen Restaurants My House schwimmen Kerzen unter einer massiven Ganesh-Statue aus schwarzem Stein in einem Blumenbecken. Im Foyer stellen Künstler konstruktive Gemälde aus. Im überdachten Innenhof versuchen zwei kleine Kinder, mit Glühbirnen besetzte Girlanden von den Bäumen zu angeln. Dies ist das moderne Hyderabad, das kurz vor der Jahrtausendwende gern Cyberabad genannt wurde. Die Stadt der boomenden Informationstechnologie und des jungen Bürgertums. Des neu erworbenen Wohlstands, an dem die alteingesessene muslimische Elite kaum Anteil hat.
    Faizur Rahman hat bereits Platz genommen. Der Advokat trägt elegante Ledersandalen, er hat das schwarz gefärbte, halblange Haar zu einem gepflegten Seitenscheitel geföhnt. Er will mir etwas über den Anschlag auf die Mekka Majid erzählen. Über die Tankstelle jenes »Hindugentleman«, in die sich die

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