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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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kann froh sein«, sagt Khuddus. Ich solle mich auf der Polizeiwache melden, wenn ich in Nirmal bin. »Die Beamten wissen Bescheid.«
    Die Strecke nach Nirmal ist eintönig. Der Highway führt auf der alten Piste des National Highway 7 durch tiefe Schluchten, rechts und links werfen Bagger Dämme aus gelbem Sand auf. Der Bus durchquert Tupran und Ramayampet, Kleinstädte ohne Tiefe, müde ausgestreckt entlang der Hauptstraße. Am Abend rücken die ersten Strohhüttenwände kleiner Dörfer in den Scheinwerferkegel. Dutzende Polizeikontrollen tauchen im Dunkel auf, kleine Hütten an Schlagbäumen, mit Sandsäcken verbarrikadiert. Am Fluss Godavari rollen im Kunstlicht Walzen über gigantische Staudämme.
    Am Busbahnhof von Nirmal fängt mich eine Polizeipatrouille ab, fünf Uniformierte in einem Jeep. Die beiden Männer auf der Rückbank tragen Maschinenpistolen, der Chef der Einheit einen Revolver im Halfter. »Wir bringen Sie in ein Hotel«, ordnet er an. »Sie können nicht nach Adilabad wandern. Morgen fahren Sie im Auto dorthin.«
    Die Stadt ist dreckig und menschenleer an diesem Abend. Die Geschäfte sind verrammelt, Müll und Steine pflastern die Piste. In der Dunkelheit versteckt sich Nirmal vor der maoistischen Gefahr aus dem Busch.
    Der Jeep stoppt am Tirumala Hotel. In der Lobby aus grauem Marmor hocken die Bediensteten auf Matratzen vor einem dröhnenden Fernseher. Ein rot livrierter Boy bringt mich in ein Zimmer, ohne dass ich ein einziges Formular unterschrieben hätte. Keiner hat auch nur nach meinem Ausweis gefragt. Das Zimmer ist schlicht und kühl. In einer blau gestreiften Vase stecken Kunstrosen. Auf dem Steinfußboden dreht sich ein Tausendfüßler im Kreis.
    Am nächsten Tag weckt mich der Chef der Jeep-Patrouille. Eine Stunde lang warte ich neben ihm im Morgenlicht vor dem Hotel auf den Fahrer und beobachte die Besucher, denen ein bewaffneter Polizist die Glastür zum Geldautomaten der State Bank of Andhra Pradesh öffnet. Es gelingt ihm nicht, immer nur einen Kunden zur Zeit einzulassen. Nach der dritten Diskussion über die zulässige Anzahl der Besucher lässt er die Tür einfach offen stehen.
    Ich steige in das Taxi, ohne für Übernachtung oder Frühstück bezahlt zu haben. Nicht einmal für das Mineralwasser, keiner hat mich danach gefragt. Ich begehre nicht dagegen auf, Teil eines korrupten Systems zu werden. Ich würde es kaum ändern können. Der Fahrer ist schweigsam, sein Wagen ungewöhnlich schlicht: keine Götterstatue, keine baumelnden Kreuze, keine arabischen Schriftzüge. Dafür ein universelles Handy-Ladekabel im Zigarettenanzünder.
    Kurz hinter der Ortsausfahrt taucht eine Hügelkette auf. Aus der Ferne wirkt sie sanft. Aus der Nähe ist sie struppig. Die Straße windet sich Serpentinen hinauf. Die Teakbäume auf den Anhöhen wirken zersaust und trocken: gleichmäßige, vier Meter hohe Pflanzen, in denen die großen, halb vergilbten Blätter im Wind flattern, dazwischen kniehohe, trockene Sträucher. Am Straßenrand hocken die obligatorischen Passstraßen-Affen und warten auf zugeworfene Früchte oder Kekse. Ein totes Huhn liegt auf dem Asphalt. »Gibt es hier Tiger?«, frage ich den Fahrer. »Ja. Auch«, sagt er. Und versinkt wieder in Schweigen.
     
    Mein Blick fällt nach Osten, wo Eukalyptuswälder bis in die Ebene hinunterdrängen. Die britischen Vermesser müssen glücklich gewesen sein, diese Schwelle zu erreichen. Das Gebiet südlich des Flusses Godavari ist zu ihrer Zeit von dichtem
Urwald überzogen, ein von Malaria und Großkatzen wimmelndes Hindernis.
    George Everest wird dort auf eine erste Probe gestellt. Während William Lambton sich immer mehr aus der eigentlichen Vermessung zurückzieht und seinen halb indischen Mitarbeiter de Penning vertrauensvoll ins Feld schickt, soll Everest durch die Vermessung der Gebiete östlich von Hyderabad eine Verbindung schaffen zu den trigonometrischen Stationen entlang der Ostküste.
    Everest muss sich beweisen. Er ist sich im Klaren darüber, dass er die Pionierleistungen eines weltberühmten Großmeisters fortführt. Und er ist fasziniert von der Vorstellung, dass seine Arbeit das Rückgrat für das gesamte Skelett des Great Trigonmetric Survey liefern soll. Geboren 1790 im walisischen Gwerndale, getauft bezeichnenderweise auf dem Nullmeridian von Greenwich und aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, hat er an der Royal Military Academy in Wooolwich Mathematik, Mechanik und Messtechnik studiert. Im Jahr 1806 ging er als

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