Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Lambton erstmals George Everest, seinen späteren Nachfolger. Im Jahr 1818 feiern die beiden ungleichen Gentlemen hier gemeinsam Weihnachten: der korpulente Lambton, von dem bekannt ist, dass er gern mit seinen Mitarbeitern Rotwein zecht und deftige Duette anstimmt, und der strenge Everest mit dem Backenbart und der markanten Nase, die an einen Adler erinnert; ein Mann ebenso nüchtern wie jähzornig.
Es ist das sechzehnte Jahr, in dem William Lambton den Subkontinent vermisst. Bereits drei Jahre zuvor umfasste die Gesamtstrecke mehr als zehn Grad oder 1100 Kilometer Länge; sie war damit, wie er in einem Bericht betonte, »die längste, die jemals auf der Erdoberfläche vermessen wurde«. Und sie übertraf, was die Präzision anging, »alles bisher in der Geschichte der angewandten Wissenschaften da Gewesene«. Lambton gilt jetzt als Genie. Er ist zum Ehrenmitglied der Royal Society ernannt worden. Die französischen Kollegen haben ihn in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Er ist lange nicht mehr der verschrobene Fähnrich aus der nordamerikanischen Wildnis, sondern ein Mann von Welt.
Wenn auch vielleicht nicht von exakt jener kolonial-erhabenen Welt, in der viele seiner Kollegen leben. Anders als sie scheint er keine Standesdünkel zu kennen. Als Everest in Hyderabad eintrifft, hat der tolerante Lambton in seinem Hauptquartier ein buntes Völkchen um sich geschart. Neben seinem Sohn William und Frances, der Mutter zweier weiterer in Indien geborener Nachkommen, gehören dazu auch fünf Assistenten von – in den Augen der Kolonialherren – zumeist zweifelhafter Herkunft. Viele sind Halbinder, wofür sie von
den Briten verachtet werden. Der dienstälteste Unterassistent Joshua de Pennings ist im Waisenhaus von Madras aufgewachsen und lebt mit Gattin und fünfzehn Kindern im Hauptquartier.
Aber in Hyderabad hat Lambtons Lebenskraft bereits die ersten Kratzer bekommen. Etwa fünfundsechzig Jahre ist er jetzt alt. Er hat die Ostindien-Kompanie um einen Nachfolger gebeten: »Ich hoffe, dass nach meinem Ausscheiden jemand gefunden wird, der Begeisterung, Ausdauer und Kenntnisse besitzt, um sie nach den bisherigen Grundprinzipien weiterzuführen«, hatte Lambton seinen Auftraggebern geschrieben. »Es wäre für mich in der Tat eine große Befriedigung, könnte ich auch nur die schwache Hoffnung hegen, dass ein Werk, das ich begonnen habe und das zu so beachtlicher Größe gelangt ist, in der Zukunft über ganz Britisch-Indien ausgedehnt werden kann.«
Sein Arbeitgeber ist dem Wunsch nachgekommen. Doch wen er ihm nach Hyderabad geschickt hat, das kann Lambton bisher nur ahnen. Der Führungsstil des Mannes, der zunächst parallel mit ihm den indischen Subkontinent mit Dreiecken überziehen wird, um ihn einige Jahre später abzulösen, wird ein völlig neuer sein. Everest wird seine Mitarbeiter das Fürchten lehren. Ganz besonders die Inder.
Zweite Reise
Von Hyderabad nach Dehra Dun
Seitenwechsel
Zehn Monate später, im Dezember 2008, bin ich zurück in Hyderabad. Mit einem neuen Paar Schuhe an den Füßen will ich in Nirmal, einer Stadt rund 200 Kilometer weiter nördlich, meine Wanderung wieder aufnehmen, dort, wo die trockene Hochebene von Andhra Pradesh sich in die grünen Berge Zentralindiens hineinstreckt. Ich muss meine Reise etwas verkürzen, denn ich habe mein Urlaubskonto zur Genüge belastet.
In Hyderabad treffe ich mich noch einmal mit Khuddus. Wieder esse ich in seinem amerikanisch-arabisch wirkenden Haus mit der Familie zu Abend, wieder spreche mit seinem Sohn Bilal. Er erzählt viel lebhafter als im Vorjahr von der Schule. Er habe sich langsam in Hyderabad eingelebt, versichert sein Vater.
Khuddus vermittelt mir einen Kontakt zum Polizeichef von Adilabad, dem nächsten Distrikt im Norden, berüchtigt für eine lange und blutige Tradition maoistischen Terrors. Adilabad gehört zum Kernland der sogenannten Naxaliten, die seit den 1960er-Jahren einen Guerillakampf für die Rechte der Kleinbauern und Ureinwohner Indiens führen. In einem Korridor, der von der Grenze Nepals bis in den Süden Andhra Pradeshs reicht, überfallen sie Polizeistationen und bringen Züge zum Entgleisen, fordern Schutzgelder und Steuern. In den tiefen Dschungeln von Adilabad haben allerdings in den vergangenen Jahren auch viele Topmaoisten ihren letzten Kampf gefochten und sind im Kugelhagel der Polizeipistolen
gestorben. »Eigentlich solltest du da gar nicht zu Fuß gehen. Wer in einem Stück aus Adilabad rauskommt,
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