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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Polizisten verkrochen, als der Mob nach der Explosion der Rohrbombe Steine werfend durch die Straßen zog. Über die Schüsse, die die Beamten in die Menge abgaben. Über die unter Mordverdacht verhafteten Studenten, allesamt Muslime. »Ihre Aussagen waren erzwungen. Es gibt nur Geständnisse. Aber keine Beweise.«
    Rahman bestellt Curry von einem Süßwasserfisch, über dessen Namen er selbst lange rätselt, weil er ihn vergessen hat. Er gibt den Kellnern in gelb-schwarzen Westen, deren Namensschilder sie allesamt als Hindus ausweisen, ungemein forsche
Anweisungen. Er holt einen Laptop hervor und spielt inmitten des dinierenden Publikums mit voller Lautstärke ein Video ab, betende Gläubige in der Moschee, ein fast unmerklicher Knall, auffliegende Tauben am grauen Himmel. Und dann bürgerkriegsähnliche Szenen. Zivilisten mit Bambusstäben stehen brüllend und orientierungslos auf der mit Steinen übersäten Straße vor der Moschee. Die Polizei eröffnet das Feuer aus der Deckung eines Hauses. Blau Uniformierte mit Baretts und beige Gekleidete mit Helmen rücken aus Gewehren schießend gegen die Menge vor. Die toten Demonstranten werden unter Trauerrufen auf Bahren abtransportiert. Rahman schließt den Rechner mit der Linken. Mit der Rechten mischt er gründlich Reis und Fisch, bevor er sich einen Happen in den Mund wirft.
    »Die Polizei behauptet, sich in der Tankstelle verschanzt zu haben und dann angegriffen worden zu sein. Aber warum liegen dann die Leichen so weit von der Tankstelle weg? Warum wurden viele in den Rücken geschossen?« Rahman erklärt mir, dass das indische Rechtssystem »immer versagt« habe, dass es viele »Kriminelle in der indischen Politik« gebe, und beschwert sich über Narendra Modi, den Chief Minister von Gujarat, der nicht verhindert habe, dass sich 2002 Hunderte Moslems und Hindus in seinem Staat massakrierten. Dann erläutert er mir die Machtverhältnisse in Hyderabad. »Nach der Unabhängigkeit haben sie den Muslimen ihren Besitz genommen. Dann haben sie sie um ihren Anteil gebracht. Sie haben sie von der Reservierungspolitik ausgeschlossen: davon, einen festen Anteil an öffentlichen Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst oder an Studienplätzen zu bekommen wie etwa die Kastenlosen.«
    Als wir das letzte Stückchen Fisch verzehrt haben, bricht er abrupt ab. Jetzt wirkt der dynamische Mann ganz ruhig. So als würde er sich sammeln, um am nächsten Morgen noch weit vor Sonnenaufgang die nächste Schlacht für seine Glaubensbrüder
auszurufen. Für jene, deren Fürsten von den Briten hofiert wurden. Deren einstige Macht seit der Unabhängigkeit stetig schwindet.
    Auf einer kleinen Bühne unter einem Baldachin stimmen ein Sänger und ein Tablaspieler Qawwali an, klagende Sufimusik mit nordindischen Einflüssen. Der Anwalt schweigt. Mein Blick wandert über die Tische im überdachten Innenhof. Eine Gruppe junger Männer prostet sich mit überdimensionalen Biergläsern vor einer indirekt beleuchteten Felswand zu; es sieht aus wie der Abschluss eines Betriebsausflugs. Ich überlege, wer eigentlich die Eindringlinge sind im modernen Hyderabad und wer die Unterworfenen. Nehmen sich die jungen Informatiker und Softwareentwickler aus allen Teilen des Subkontinents, die hier Bier trinken, nicht zurück, was ihnen die arabischen Eindringlinge einmal gestohlen haben?
    Es ist spät in der Nacht, als ich mich von Rahman trenne. Aber trotz des neuen, ruhigen Zimmers finde ich wieder keinen Schlaf im Hotel Harsha. In der ungewohnten nächtlichen Stille gehen meine Gedanken auf Reisen. Ich frage mich, was ich erreicht habe, seit ich vor fünfeinhalb Wochen in Kanyakumari losgelaufen bin, 1270 Straßenkilometer von hier. Fast 1000 Kilometer bin ich zu Fuß gelaufen. Ich bin tief in den indischen Süden eingetaucht, in die ärmliche Provinz, die vergessenen Kleinstädte und die boomenden Metropolen. Aber es bleibt das Gefühl, wenig verstanden zu haben. Zu komplex waren die Eindrücke, zu verschieden die Lebenswelten der unterschiedlichen Kasten und Gesellschaftsschichten, der zahlreichen Kulturen und Religionen. Als Europäer in Indien kann man froh sein, wenn man auch nur gelegentlich einen Identifikationspunkt findet. Aber hier heimisch zu werden scheint mir ganz und gar ausgeschlossen.
    So wie Hyderabad für mich das Ende des ersten Reiseabschnitts markiert, beginnt hier an der Schwelle nach Nordindien auch für die britischen Vermesser ein neues Kapitel. In der Stadt des Nizam trifft William

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