Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Der Fahrer lenkt den Wagen in eine schattige Allee. Vor der Residenz des Polizeichefs setzt er mich ab.
Ein Empfangschef mit Vollbart, weißem Turban und leuchtenden Knopfaugen bittet mich, meinen Namen auf ein leeres Din-A4-Blatt zu schreiben. Ich warte eine halbe Stunde mit einem Glas Wasser in einem Nebenraum auf einem Plüschsofa. Dann öffnet Anil Kumar die schwere, mit Lederkissen gedämpfte Holztür: ein kleiner Mann mit rundem Gesicht, eckiger Brille und breitem Grinsen. An der Wand über seinem Schreibtisch hängt das indische Wappen mit den vier Löwen als Kupferrelief. Der Polizeichef fragt nach meinem Anliegen und lehnt sich in einen mit einem Laken bezogenen Sessel zurück. Umständlich fummelt er ein Tuch aus der Tasche und wischt die Brille: »Haben Sie mal was von Vinoba Bhave gehört?« Er erzählt mir von jenem Freiheitskämpfer, der 1951 aufbrach, um durch Indien zu wandern und von den Großgrundbesitzern Bodenflächen für die landlosen Massen zu erbitten. Innerhalb von sechs Jahren und 20 000 Kilometern Fußmarsch hatte er immerhin zwei Millionen Hektar zusammen. »Aber davon wurde nur wenig verteilt«, sagt Kumar. »Den größten Teil schluckte die Korruption.«
Ein Diener reicht ein Tablett mit zwei Bechern Tee, die mit weißen Papierdeckeln bedeckt sind. Durch das offene Fenster zwitschern die Vögel. Kumar erzählt von seiner Heimat Shimla im Himalaya, von seiner Familie und seiner Karriere, die ihn durch halb Indien geführt hat. »In Adilabad bin ich erst seit drei Jahren. Eine relativ friedliche Zeit. Auch wenn ich hier ständig in Gefahr bin. Polizeichefs stehen ganz oben auf der Liste der Extremisten. Gefolgt von Lokalpolitikern. «
Früher habe der Terror andere Ziele gehabt, sagt Kumar und streicht sich sorgfältig den dichten Schnauzer glatt. »In den siebziger Jahren ermordeten die Maoisten die Großgrundbesitzer. Sie suchten ganz gezielt die Leute aus, die ihre Arbeiter ausbeuteten. Sie kamen mit Äxten und Messern aus dem Wald, metzelten erst die Großbauern nieder, dann ihre Angehörigen und Diener. Die Landlords gerieten in Panik, sie flüchteten aus dem Distrikt. Und die Landlosen schlossen sich den Maoisten an, Massen von ihnen. Sie hatten nichts zu verlieren.« Adilabad sei damals sehr arm gewesen, sagt er. Und es ist nicht zu überhören, dass er Verständnis für die Beweggründe seiner Gegner hat. »Es gab kein Telefon, kaum Straßen. Die Menschen kämpften ums Überleben.« Erst als die Regierung in die Verkehrsinfrastruktur investierte, die Stromversorgung verbesserte, änderten die Rebellen ihre Strategie. »Sie gingen dazu über, Polizeiwachen anzugreifen, sie töteten Lokalpolitiker.« Dann wurden die Grey Hounds aufgestellt, erzählt Kumar, eine Eliteeinheit, fünftausend Mann, spezialisiert auf den Kampf gegen die Guerilla. Sie durchkämmten die Dörfer. Sie hatten die Erlaubnis, Sympathisanten zu töten. »Ihre Methoden sind umstritten«, sagt der Polizeichef. Und er scheint sich zu bemühen, dabei neutral zu wirken. »Aber ihr Einsatz war effektiv.« Seit zwei Jahren sei die Lage in Adilabad ruhig. »Viele Maoisten sind übergetreten, wir stellen sie ein, sie arbeiten als Home Guards, als Helfer für die Polizei. Sie bewachen Brücken, fahren mit den Streifen in die Dörfer. Oder halten unsere Gebäude sauber.«
»Ist es möglich mit einem von ihnen zu sprechen?«
»Kein Problem, ich organisiere das für Sie.«
Ich frage Kumar, ob die Strecke nach Norden gefährlich ist. »Ab hier können Sie zu Fuß gehen. Aber schlafen Sie nicht draußen. Und bleiben Sie immer auf dem Highway. Auch wegen der Tiger.«
Kumar quartiert mich in der Police Mess ein, in »Suit No 2«, die ihren Namen trotz fehlendem »e« verdient. Rote Nylonvorhänge trennen die Räume voneinander, durch die nur vereinzelt Mücken summen. Die Sitze in der Essnische sind mit frisch bezogenen Kissen belegt.
Ich gehe hinunter in den Hof. Ein schmächtiger, kleiner Mann fegt die Steintreppen vor dem Gebäude, auf einem offenen Gelände auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehe ich einen Jahrmarkt in Ruhestellung. Das unbewegte Riesenrad wird von Neonlicht geflutet, das Kettenkarussell ist mit Planen abgedeckt. Ich wandere einen Holzzaun entlang, der die Kirmes umgibt. Sieben Rupien kostet der Eintritt, den mir ein junger Mann in einer schwarzen Lederjacke abnimmt.
Der Vergnügungsparcours hinter dem Zaun ist gähnend leer, an wenigen Verkaufsständen werden Süßigkeiten und Plastikspielzeug
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