Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
angeboten. Die Schiffschaukel hat blau lackierte Wände aus Pressholz und einen gelb-schwarzen Salamanderschwanz. Aber auch sie steht still. Dafür schmeißt jetzt ein schielender Turbanträger den Dieselmotor des Riesenrads an; in viereckigen, bunt lackierten Metallkörben drehen sich je drei quietschende Kinder. Ich schieße ein Foto von einem Karussell mit Plastikenten und Hühnern als Reittieren, ein halbes Dutzend Schuljungen drängt winkend in den Fokus, um abgelichtet zu werden.
Plötzlich steht ein humpelnder junger Mann mit Jeans und weißem Hemd im Bild und streckt die Hand aus. »Gib den Chip her«, sagt er. »Hier wird nicht fotografiert. Das ist mein Land!« Ich denke an George Everest, ich denke an William Lambton. Für Ausländer gibt es in Indien vor allem zwei Wege, um zum Ziel zu gelangen: Man kann sich als lauter, törichter Fremder aufführen oder mit außerordentlicher Höflichkeit
jede Schwierigkeit umschiffen. Ich entscheide mich für die zweite Methode, lächele bescheiden, entschuldige mich und schwöre, die Bilder zu löschen.
Zurück in der Police Mess hat sich eine kleine Abordnung versammelt. Vier Ex-Maoisten sitzen im zweiten Stock des Gebäudes brav auf einer Reihe Plastikstühle unter einem stehenden Ventilator: eine Frau mit einem vielleicht dreijährigen Kind und drei junge Männer. Der Polizeichef hat sie bestellt und einen Dolmetscher gleich dazu. Alle vier sind schmächtig, alle sind Adivasi, sagen sie, sie gehören zur indischen Urbevölkerung, zu den Stammesvölkern des Subkontinents. Und alle sprechen Telugu und kein einziges Wort Hindi.
Die meisten von ihnen sind Mörder. Ein Mann, der sich Sriram nennt, schildert sein früheres Leben im Dalam, dem Team. Zwischen den Sätzen macht er seltsame Schnalzgeräusche. Er erzählt von langen Fußmärschen durch den Dschungel, von Camp zu Camp, bis hinauf in den Nachbarstaat Chattisgarh. Er erzählt vom frühen Aufstehen und den Übungen im Wald und davon, dass sie im Sommer oft tagelang nichts zu essen hatten. »Die Bewegung ist in Adilabad unter Druck geraten. Die Kommandeure haben uns immer öfter in die Dörfer geschickt, um Wasser und Essen zu holen.« Zum Schluss oft unter Androhung von Gewalt. Die Unterstützung in den Dörfern habe deshalb abgenommen. Fünf Menschen hat Sriram getötet, darunter einen Großgrundbesitzer und einen Politiker der Telugu Desham Party, einer Regionalpartei, die in den 1980er-Jahren vom damaligen Filmstar und späteren Chief Minister Andhra Pradeshs, N. T. Rama Rao, gegründet worden war. Vor zwei Jahren ist Sriram schließlich im Osten Adilabads zu einem Subinspector gegangen, um »die Bewegung« zu verlassen. Weil es nicht mehr gut sei, was die Maoisten machen. Weil die Bewegung
alt geworden sei. »Früher gab es noch eine Ideologie. Jetzt geht es nur noch um die Macht.«
Die Frau mit dem Kind im Arm sagt, sie sei beigetreten, weil nichts los war in ihrem Dorf. »Die Rebellen kamen und sangen auf dem Dorfplatz die Lieder der Revolution. Ich mochte die Musik. Da bin ich mitgegangen.« Sieben Jahre ist das her, zwanzig war sie damals. Sie hat ihren Mann in einem Camp im Osten Adilabads kennengelernt. »Aber vor vier Jahren wurde er bei einem Angriff der Polizei erschossen.« Sie hat vor allem wegen ihrer beiden kleinen Kinder kapituliert, neben dem Mädchen auf ihrem Schoß hat sie einen zehnjährigen Sohn. »Hier gibt es jetzt auch neue Schulen.« Nun arbeitet sie als Home Guard . »Meistens mache ich in den Gebäuden der Polizei sauber. Bei Veranstaltungen koche ich.« Dreitausend Rupien bekommt sie dafür monatlich, umgerechnet sechzig Euro. »Aber das ist nicht genug zum Leben.«
Ich habe den Eindruck, die Frau lächelt mir mit einem Anflug von Laszivität zu. Ich habe das Gefühl, sie würde mir gern ihr Kind auf den Schoß setzen. Vielleicht sucht sie Schutz. Wenn nicht bei den Rebellen und nicht bei der Polizei, dann eben bei irgendeinem Fremden.
Als wir uns verabschieden, frage ich Sriram, wie man schläft, wenn man fünf Morde auf dem Gewissen hat. »Ich habe nie schlecht geschlafen.« Er schnalzt wieder mit der Zunge. »Es war immer der Dalam, der bestimmt hat, wen ich töte. Und ein Ziel ist ein Ziel.«
Wer ist William London?
Mein Weg in den Norden führt über Indiens kahlen Rücken. In der Dunkelheit jenseits von Adilabad überspannt eine breite Brücke einen Fluss. Lkw stauen sich vor einem Schlagbaum. Mit lautem Hupen treibt ein Fahrer zwei Esel auseinander. Auf dem Tisch
Weitere Kostenlose Bücher